
Agrar-Initiativen: Gegenvorschlag überbordet
Um die Risiken des Pestizideinsatzes zu senken, lancierte die Wirtschaftskommission des Ständerats die parlamentarische Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren». Sie ist als inoffizieller Gegenvorschlag zu den beiden extremen Agrar-Initiativen gedacht. Nach langen und zähen Verhandlungen hat das Parlament diesen Frühling einen Gesetzestext verabschiedet. Das Pestizidgesetz schiesst jedoch mit seinen drastisch verschärften Grenzwerten weit über das ursprüngliche Ziel hinaus.
Mittwoch, 28. April 2021
Das Wichtigste in Kürze:
- Der Gegenvorschlag beinhaltet neue Grenzwerte für Pflanzenschutzmittel und ihre Abbauprodukte.
- Künftig wird nicht mehr zwischen relevanten und nicht relevanten Abbauprodukten unterschieden. Für beide gilt neu der sehr tiefe Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter.
- Damit drohen bis zu 80 Prozent der gegenwärtig verfügbaren Pflanzenschutzmittel ihre Zulassung zu verlieren.
Das von National- und Ständerat abgesegnete «Bundesgesetz über die Verminderung der Risiken durch den Einsatz von Pestiziden» setzt an drei Punkten an. So sollen die Risiken beim Einsatz von Bioziden, Pflanzenschutzmitteln und Nährstoffverlusten gesenkt werden. Dafür sind Änderungen des Chemikaliengesetzes, des Gewässerschutzgesetzes sowie des Landwirtschaftsgesetzes notwendig. Das Gesetz geht aus der parlamentarischen Initiative «Das Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» der Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Ständerats hervor und entstand unter dem Eindruck einer angeblich grossflächigen Wasserverschmutzung. Der öffentliche Druck, der auf den Politikern lastete, war immens. Das Gesetz enthält vernünftige Massnahmen. Doch gerade im Bereich des Pflanzenschutzes sind die getroffenen Massnahmen überschiessend.
Unnötig strenge Grenzwerte
Für sämtliche Pflanzenschutzmittel und ihre Abbauprodukte gilt neu im Grundwasser ein Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter Wasser. Bis anhin galt für ein als «nicht relevant» - also weder für Mensch noch Umwelt schädlich - eingestuftes Abbauprodukt ein hundertmal höherer Grenzwert von 10 Mikrogramm pro Liter. Neu spielt es keine Rolle mehr, ob ein Pestizid und seine Abbauprodukte als «relevant» oder «nicht relevant» eingestuft sind. Das vom Parlament ausgearbeitete Gesetz verlangt die automatische Überprüfung eines Pflanzenschutzmittels, sobald es den Grenzwert von 0,1 Mikrogramm pro Liter wiederholt und verbreitet überschreitet. Falls nicht sichergestellt werden kann, dass die Grenzwerte künftig eingehalten werden, muss dem Mittel die Zulassung entzogen werden.
Dass künftig nicht mehr zwischen «relevant» und «nicht relevant» unterschieden werden soll, ist willkürlich und wissenschaftlich nicht nachvollziehbar. Es ist nicht sachgerecht, Gesetze nach der reinen Präsenz von Stoffen auszurichten. Vor allem nicht, wenn diese nachweislich kein Risiko darstellen – eben «nicht relevant» sind.
Zudem: Die Grenzwerte für Grundwasser sind nun schärfer als die Anforderungen an das Trinkwasser gemäss Lebensmittelgesetz. So wird der postulierte Gesundheitsschutz ad absurdum geführt. Die Folgen sind Lebensmittelimporte statt Nahrungsproduktion. Denn bis zu 80 Prozent der heute in den Märkten verfügbaren Pflanzenschutzmittel sind nicht mehr zulassungsfähig, ohne dass vollwertige Alternativen vorhanden sind. Da mit den arbiträr tiefen Grenzwerten «Überschreitungen» geradezu provoziert werden, werden grundlose «Trinkwasser-Skandale» und enorme unnötige Investitionen für die «Sanierung» von Trinkwasserfassungen die Folge sein.
Der Wohlstand der Schweiz basiert weitgehend auf ihrer hohen Innovationskraft. Solide Grundlagenforschung und eine sachgerechte Regulierung ermöglichen, Innovationen zu fördern und gleichzeitig Risiken zu reduzieren. Denn gerade zur Erhaltung der biologischen Vielfalt und zur Eindämmung des Klimawandels sind innovative Lösungen zwingend notwendig, damit die Fähigkeit der Landwirte erhalten bleibt, auf nachhaltige Weise genügend sichere und gesunde Lebensmittel produzieren zu können.
Nährstoffverluste und Risiken
Insgesamt sollen mit dem neuen Gesetz die Risiken des Einsatzes von Pflanzenschutzmitteln für Oberflächengewässer, naturnahe Lebensräume und das Grundwasser sollen bis 2027 um 50 Prozent reduziert werden. Als Referenzpunkt gilt der Mittelwert der Jahre 2012 bis 2015. Es ist Aufgabe des Bundesrates, die Indikatoren festzulegen, anhand derer die Berechnungen erfolgen sollen. Zusätzlich hat das Parlament noch einen Absenkpfad im Bereich Nährstoffverluste beschlossen. Stickstoff- und Phosphorverluste sollen bis 2030 im Vergleich zum Mittelwert der Jahre 2014 bis 2016 angemessen reduziert werden. Auch hier entscheidet der Bundesrat, was unter «angemessen» zu verstehen ist.
Erfassung von Bioziden
Zusätzlich sollen Massnahmen zur besseren Erfassung von Bioziden getroffen werden. Biozide sind Schädlingsbekämpfungsmittel, die meist nicht direkt auf dem Acker, sondern in der Verarbeitung oder industriellen Produktion zum Einsatz kommen. Sie spielen eine wichtige Rolle bei der Gewährleistung von Hygienestandards. Darunter fallen beispielsweise Desinfektions- und Reinigungsmittel. Aber auch Wirkstoffe gegen Pilze, Algen oder Nager gehören dazu. Das neue Gesetz möchte den Einsatz von Bioziden auch ausserhalb der Landwirtschaft neu regeln. So müssen Verkäufer von Bioziden dem Bund künftig Daten über den Vertrieb übermitteln. In einem zentralen System müssen Verwendungszwecke von risikoreichen Wirkstoffen von den Anwendern erfasst werden. Dies soll eine bessere Übersicht über verwendete Mengen und Einsatzorte von Bioziden ausserhalb der Landwirtschaft garantieren.
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