
«Es gibt kein chemiefreies Essen – hat es nie gegeben und wird es auch nie geben»
Chemische Rückstände in unseren Lebensmitteln werden in den Medien immer wieder heiss diskutiert. Ein Blick nach Österreich zeigt: Es ist eine Illusion zu glauben, dass eine rückstandsfreie Lebensmittelproduktion möglich ist. Denn es gibt Rückstände aus natürlichen wie synthetischen Quellen. Und bei allen gilt: Die Menge macht das Gift.
Montag, 17. März 2025
Chemikalien werden per se als schlecht wahrgenommen, Stoffe natürlichen Ursprungs dafür als positiv. Laien lassen in der Regel die Dosis eines toxischen Stoffes völlig ausser Acht und stufen auch kleinste Mengen von Pestiziden unbegründet als gefährlich ein – beispielsweise chemische Rückstände in ihren Lebensmitteln.
Ein ORF-Beitrag thematisiert die komplexen Herausforderungen im Zusammenhang mit diversen Rückständen auf unseren Tellern. Neben synthetischen Pflanzenschutzmitteln werden im Beitrag auch Mykotoxine in Getreide sowie natürliche Gifte als ernst zu nehmende Gefahren für die Ernährungsgesundheit identifiziert. Es zeigt sich einmal mehr, dass auch natürliche Stoffe hochgiftig sein können, während synthetisch hergestellte Substanzen oft ungefährlich sind.
Und ohne Pflanzenschutzmittel geht es häufig nicht. Der österreichische Landwirt Lorenz Mayr bringt es im ORF-Beitrag auf den Punkt. «Ohne Pflanzenschutzmittel würde das Feld in kürzester Zeit dürr werden. Wenn dann der Pilzbefall ganz stark ist, geht dieser in die Knollen herunter und die Knollen verfaulen.» Ein Totalausfall der Ernte wäre die direkte Folge. Mayr erläutert, dass die Anwendung von Pflanzenschutzmitteln unabdingbar ist. Dabei müsse er sich an strikte Vorgaben halten: «Es gibt strenge Regelungen, in welchem Zeitraum man das Pflanzenschutzmittel anwenden darf. Die Hauptsache ist, dass wir unsere Pflanzen vor den Krankheiten schützen können, damit wir die Lebensmittel für die österreichische Produktion herstellen können.»
Viele notwendige Wirkstoffe fehlen
Die aktuelle Situation in Österreich sei prekär. Viele notwendige Wirkstoffe fehlen, was dazu führt, dass Landwirte immer mehr auf Importe angewiesen sind. «Wir verbieten gewisse Mittel bei uns und importieren dann Lebensmittel von anderen Ländern, wo diese Mittel eingesetzt werden», erklärt Mayr im Beitrag. Der Landwirt ist deshalb überzeugt, dass der kontrollierte Einsatz dieser Mittel am Ende weniger Klimaschäden verursacht als ein Verzicht darauf, der zu einem höheren Importbedarf führen würde.
Eine etwas andere Sichtweise vertritt der Agraringenieur und Sachbuchautor Timo Küntzle. Da Pflanzenschutzmittel immer einen Eingriff in die Natur darstellen, ist ihr Einsatz so weit wie möglich zu reduzieren. Dennoch sei es utopisch zu glauben, dass Lebensmittelproduktion ganz ohne Chemie möglich ist: «Alles um uns herum ist Chemie und besteht aus Chemie. Es gibt kein chemiefreies Essen – hat es nie gegeben und wird es auch nie geben», wird Küntzle im Beitrag zitiert.
ORF beleuchtet verschiedenste Rückstandsarten und schreibt auf ihrer Website dazu: «Sogenannte Mykotoxine bei Getreide, ferner natürlich wachsende Gifte, die die Pflanze selber zur Abwehr gegen Schädlinge produziert, oder auch Rückstände industrieller Produktion wie Arsen sind Gefahrenquellen für unsere Ernährungsgesundheit. Auch das Mikroplastik, das unvermeidbar aus der hohen Verpackungsdichte folgt, kann unsere Nahrungsgrundlage beeinträchtigen.» Zu Arsen sagt Rudolf Krska, Bio-Analytiker am BOKU in Tulln im ORF-Beitrag: «Arsen ist eine eindeutig krebserregende Substanz.» Arsen kommt auch natürlich vor. Wohl deshalb galt bis 2015 in der Schweiz für Trinkwasser ein sehr hoher Höchstwert von 50 Mikrogramm/Liter (µg/l); erst 2016 wurde er auf 10 µg/l herabgesetzt, mit Übergangstoleranzen bis 2018.
Bio als Klima-Killer
Eine interessante Perspektive bietet Küntzle zufolge die Bio-Landwirtschaft, die bei Getreide zum Teil vollständig auf alle Arten von Pflanzenschutzmitteln verzichtet. Dies mache sich jedoch in den erheblich geringeren Erträgen bemerkbar – diese fallen teilweise bis zu 50 Prozent tiefer aus. «Umgekehrt bedeutet das, dass für eine Tonne Getreide doppelt so viel Land benötigt wird. Und diesen Landverbrauch hat der Weltklimarat IPCC als schädlichsten Einflussfaktor auf das Klima identifiziert.» Eine Umstellung der gesamten derzeitigen Landwirtschaft auf Bio-Landbau würde die Treibhausgasemissionen um bis zu 70 Prozent erhöhen. Zudem müssten Lebensmittel aus dem Ausland importiert werden. Lorenz Mayr führt das Beispiel der aus Ägypten importierten Kartoffeln an und sagt: «Wenn man bedenkt, dass eine Kartoffel zu 80 Prozent aus Wasser besteht, so ist der Import aus einem wasserarmen Land umso absurder.»
Klar ist: Ein Essen ganz ohne Rückstände wird es auch in Zukunft nicht geben. Um Ertragsausfälle zu verhindern und andere, potenziell lebensbedrohliche Gifte auszuschalten, sind Pflanzenschutzmittel nach wie vor unerlässlich. Entscheidend sind die sorgfältige Evaluation und sachgerechte Anwendung. Und Kontrollen durch die Lebensmittelbehörden. Denn schliesslich gilt für Rückstände allen Ursprungs: Die Dosis macht das Gift.
Und wenn man bedenkt, dass 55 Prozent der Pestizide weniger giftig als Vitamin C, 89 Prozent weniger giftig als Ibuprofen und 98 Prozent von ihnen weniger giftig als Koffein und Aspirin sind, wie das Consumer Choice Center eruiert hat, besteht wohl noch weniger Anlass, sich ausschliesslich vor Pflanzenschutzmitteln zu fürchten. Denn ganz ohne Pflanzenschutzmittel würden die Ernteverluste gemäss seiner Einschätzung zwischen 50 Prozent bis 80 Prozent liegen. Zu ähnlichen Zahlen kam bereits der wissenschaftliche Dienst des EU-Parlaments; je nach Kultur liegt der Ernteausfalls bei 48 Prozent bis 62 Prozent. Und diese Zahlen dürften sich mit den Herausforderungen des Klimawandels eher noch erhöhen.
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