Falsche Studie zu Vergiftungen mit Pflanzenschutzmitteln beeinflusst politische Entscheidungen
In den letzten Jahren machte die alarmierende Nachricht die Runde, dass jährlich 385 Millionen Menschen eine Pflanzenschutzmittelvergiftung erleiden. Die Behauptung stammt aus einer Studie von Pflanzenschutzkritikern. Sie wurde von zahlreichen Medien und staatlichen Institutionen aufgegriffen und verbreitet. Das Problem: Die Zahl ist falsch. Die Studie lässt die Schlussfolgerung gar nicht zu, weshalb der entsprechende Wissenschaftsverlag die Studie mittlerweile zurückgezogen hat. Doch sie hat die Politik trotzdem beeinflusst und wird auch weiterhin fleissig zitiert.
Freitag, 15. November 2024
385 Millionen – so viele Menschen sollen weltweit jedes Jahr Vergiftungen durch Pflanzenschutzmittel erleiden. Also statistisch gesehen jeder 20. Mensch. Das zumindest wurde in einer Studie behauptet, die 2020 im wissenschaftlichen Journal «BMC Public Health» veröffentlicht wurde. Verfasst wurde die Studie von Aktivisten der pflanzenschutz-kritischen Nichtregierungsorganisation «Pesticide Action Network (PAN)».
Wie der deutsche Industrieverband Agrar mitteilt, handelt es sich jedoch um eine Falschaussage. Die Redaktion von «BMC Public Health» hat die Studie zurückgezogen, weil «Hinweise auf grobe methodische Fehler» eingegangen sind. Kleinlaut heisst es weiter: «Der Herausgeber hat kein Vertrauen mehr in die Ergebnisse und die vorgelegten Schlussfolgerungen». Methodisch ist die Studie nicht haltbar. Bereits die reine Exposition mit einer potenziell gefährlichen Substanz wurde als Vergiftungsfall gezählt. So wurde die Zahl der Vergiftungen enorm aufgebläht.
Falsche Zahlen immer noch im Umlauf
Viel schlimmer als das «Schauermärchen ohne Substanz», wie das Debakel in der Medienmitteilung des Industrieverbands genannt wird, ist jedoch das sichtlich unkritische Verhalten sowohl von Medien als auch von staatlichen Stellen. Statt die Studie zu hinterfragen, wurde die Zahl unkritisch verbreitet. Auch Schweizer Medien wie «Infosperber» oder der «Schweizer Bauer» haben den Wert übernommen. Auf «Infosperber», dem Portal, das sich gemäss eigenem Selbstverständnis auf relevante Recherchen konzentriert und zur Meinungsbildung beiträgt, wird die Unwahrheit munter weiter verbreitet.
Auch offizielle Stellen haben die falsche Hochrechnung verbreitet und sie ist bis heute auf zahlreichen offiziellen Websites zu finden – darunter finden sich auch diverse internationale Organisationen wie die Europäische Kommission, die UNO und die WHO.
Blindspot-Artikel
Wie so häufig, erhält die Korrektur nicht die gleiche Aufmerksamkeit wie die Falschmeldung. Der Industrieverband Agrar zitiert den irischen Autor Jonathan Swift, der schon vor 300 Jahren schrieb «Die Lüge fliegt, und die Wahrheit humpelt ihr hinterher». Schrille Falschmeldungen geben eine Schlagzeile, die Wahrheit nicht. Zumindest einige deutsche Medien haben die Korrektur vorgenommen. Unter anderem die «Welt». Sie stellt die Meldung der falschen Hochrechnung in einen politischen Kontext. «Politiker hörten auf Aktivisten statt auf Wissenschaft», heisst es im Artikel.
Und man hört lieber auf NGO statt auf die entsprechende Wirtschaftsbranche. Denn: Der Schweizer Verband scienceindustries hatte diese «Millionen-Ente» und andere Behauptungen bereits 2022 entlarvt. Doch die Zahl lebt weiter.
Die Stimmungsmache gegen Pflanzenschutzmittel hat gemäss dem Bericht der «Welt» auch die Entscheide zu Exportverboten gegen Pflanzenschutzmittel beeinflusst. So hätten die deutschen Grünen im Koalitionsvertrag auf ein solches Verbot gepocht. Und exportierende Unternehmen beklagen Schlendrian bei Exportgesuchen durch die Verwaltung mit erkennbarer Verhinderungsabsicht. Mit anderen Worten: Falsche Zahlen ziehen falsche politische respektive Verwaltungsentscheide nach sich. Das gilt auch für die Schweiz. swiss-food hat über die Exportverbote für Pflanzenschutzmittel berichtet.
Es bleibt eine wichtige Lehre aus dem Fall der fehlerhaften Studie: Die kritische Betrachtung wissenschaftlicher Studien ist enorm wichtig.swiss-food hat die Problematik aufgegriffen. Vermeintlich «wissenschaftliche» Daten werden bei Umweltthemen laufend herangezogen, um die Argumentation zu stützen. Mit falschen Daten wird dann auch der Irrsinn kaschiert, dass die EU durch die massive Beschränkung von Pflanzenschutzmitteln vom Weizenexporteur zum Weizenimporteur wird. Dies betont im «Welt»-Artikel auch Agrarökonom Harald von Witzke der Humboldt-Universität in Berlin. Der weltweite Bedarf nach Nahrung wachse stetig, weshalb der Boden immer produktiver genutzt werden müsse. Die Produktion gerade in den armen Ländern liesse sich durch Verringerung von Ernteverlusten steigern. Dort würden Krankheiten und Schädlinge bis zu 50 Prozent der potenziellen Ernte vernichten. Pflanzenschutzmitteln komme deshalb eine «lebenswichtige» Rolle zu, betont von Witzke. «Eine Expertise, die kaum für Schlagzeilen sorgen dürfte – im Gegensatz zu schillernden Unsinnszahlen», bilanziert die «Welt».
Die Verbreitung von falschen Zahlen erinnert an die Behauptung, dass jährlich über 200'000 Menschen an Pestizid-Vergiftungen sterben. Auch diese Zahl ist falsch. Bei genauerer Betrachtung wurde festgestellt, dass die Zahl von 200'000 Pestizidtoten aus einem Dokument stammt, das bereits 35 Jahre alt ist. Der Autor, ein Arbeitsmediziner namens Jeyarajah Jeyaratnams, hatte in einem Gedankenexperiment Suizide mithilfe von Schädlingsbekämpfungsmitteln in Sri Lanka weltweit hochgerechnet. Jeder dieser Vorfälle ist tragisch. Die Suizide eignen sich jedoch nicht, um eine Aussage zu den weltweiten Pestizidtoten zu machen.
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