«Hochverarbeitet» ist kein Schimpfwort

«Hochverarbeitet» ist kein Schimpfwort

In den Medien wird immer wieder vor «hochverarbeiteten Lebensmitteln» gewarnt. Doch sind Tiefkühlpizza & Co. wirklich so ungesund? Keineswegs, findet die Ernährungswissenschaftlerin und emeritierte Professorin Hannelore Daniel. Ihr Appell: Hört endlich auf, Fertigprodukte pauschal schlechtzureden.

Montag, 16. Juni 2025

Hochverarbeitet ist nicht gleich ungesund. Diese Botschaft vermittelt die Ernährungswissenschaftlerin Hannelore Daniel im Interview mit der «NZZ». Sie moniert, dass hochverarbeitete Lebensmittel – sogenannte UPF (ultra-processed foods) – in Verruf geraten sind und per se als ungesund gelten. Dieser Mythos sei grundfalsch, so die Wissenschafterin.

Studien, die UPFs mit Fettleibigkeit, Diabetes oder Krebs in Verbindung bringen, basieren laut Daniel häufig auf schwachen Grundlagen. Das Hauptproblem: All diese Studien berufen sich auf die sogenannte Nova-Klassifikation. Dabei werden Lebensmittel in den Stufen 1 (unverarbeitet) bis 4 (hochverarbeitet) eingeteilt. Besonders problematisch ist laut Daniel die vierte Stufe, deren Kriterien unscharf und ideologisch gefärbt seien: lange Zutatenlisten, industrieller Herstellungsprozess, «besonders schmackhaft» – all das gelte pauschal als negativ.


Willkürliche Kategorisierung

Dabei zeigt ein konkretes Beispiel, wie willkürlich diese Einordnung sein kann: Ultrahocherhitzte Milch, industriell verarbeitet und durch Homogenisierung besonders haltbar gemacht, wird dennoch in Stufe 1 – also als «unverarbeitet» – eingeteilt. Eine Tiefkühlpizza hingegen, die 18 Zutaten enthält, von denen 17 auch in jeder Küche zu finden sind, landet wegen eines kleinen Anteils modifizierter Stärke in der vierten Stufe. Für Daniel ist klar: Die Kategorisierung ist «wissenschaftlich völlig unfundiert».

Die emeritierte Professorin möchte damit keineswegs behaupten, dass hochverarbeitete Lebensmittel keine problematischen Auswirkungen haben. Vielmehr sieht sie das Problem darin, dass es sich dabei häufig um Assoziationsstudien handelt. Es werden also nur Zusammenhänge aufgezeigt und keine Aussage darüber gemacht, ob die hochverarbeiteten Lebensmittel tatsächlich die Ursache für eine Erkrankung sind. Korrelation ist aber nicht gleich Kausalität! Des Weiteren bemängelt Daniel, dass die Studien oft auf Daten aus alten Ernährungsbefragungen basieren.

Sie sieht die Wissenschaft in der Pflicht. Statt den Begriff «hochverarbeitete Lebensmittel» zu verwenden, sollen die Forschenden die spezifischen Inhaltsstoffe und ihre Wirkung genau untersuchen. Auch die generelle Verteufelung von sämtlichen Zusatzstoffen lehnt Daniel ab. In Europa sind 411 Lebensmittelzusatzstoffe zugelassen – darunter einfache Vitamine, Verdickungsmittel oder Farbstoffe. «Jeder dieser Stoffe hat eine andere chemische Struktur, eine andere Wirkung, oder wird in unterschiedlicher Dosis eingesetzt», so die Wissenschafterin.

Statt pauschal zu urteilen, müsse man das Ganze differenzierter betrachten. In die gleiche Kerbe schlägt auch Lebensmittelchemiker Daniel Wefers. «Auch mit wenig verarbeiteten Lebensmitteln kann man sich ein ungesundes Essen kochen – und sich fabelhaft vergiften.» Und: Viele Zusatzstoffe seien gut untersucht und in manchen Fällen sogar nützlich – etwa zur Nährstoffanreicherung oder für eine längere Haltbarkeit.


Verantwortung liegt auch bei Konsumentinnen und Konsumenten

Für Hannelore Daniel ist klar: Die Verantwortung liegt nicht allein bei der Industrie. «Natürlich machen Firmen Produkte, die besonders gut schmecken – genauso wie Mode so entworfen wird, dass sie uns gefällt», sagt sie. Letztlich kommt es auf die Kalorienaufnahme an.

Ihr Rat: Wer etwa eine Tiefkühlpizza nicht ganz verzehrt, sondern die Hälfte zurücklegt, senkt Kalorien-, Fett- und Zuckergehalt der Mahlzeit deutlich – ohne ganz auf den Genuss zu verzichten. Jeder habe dabei «Messer und Gabel selbst in der Hand».


Auch Lebensmittel aus dem Reaktor sind gesund

Der Ruf nach «natürlichen» Lebensmitteln greift ebenso zu kurz wie die pauschale Ablehnung von hochverarbeiteten Produkten. Nicht alles, was natürlich ist, ist automatisch gesund – genauso wenig wie «synthetisch» per se gefährlich ist. Es braucht mehr Offenheit gegenüber Innovationen und eine differenzierte Auseinandersetzung mit neuen Technologien und ihrer Rolle in der nachhaltigen Lebensmittelproduktion.

Ein gutes Beispiel sind sogenannte Bioreaktoren, in denen Lebensmittel unter kontrollierten Bedingungen gezüchtet werden – nachhaltig, effizient und unabhängig von Wetter, Boden oder Tierhaltung. Und: Obwohl diese Lebensmittel hochverarbeitet im Reaktor produziert wurden, gelten auch sie als gesund.

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