Kann Ernährung gesund und gleichzeitig nachhaltig sein?

Kann Ernährung gesund und gleichzeitig nachhaltig sein?

Gibt es einen Menüplan, der unserem Körper guttut und gleichzeitig nachhaltig ist? Die Antwort lautet ja, doch sie ist gleichzeitig komplex. Dies ergeben Recherchen des Onlineportals «Heidi.news» und der «Sonntagszeitung».

Mittwoch, 12. Januar 2022

Das Wichtigste in Kürze:

  • Die perfekte Diät, die sowohl der menschlichen Gesundheit als auch der Nachhaltigkeit gerecht wird, existiert zwar theoretisch. Die Praxis ist jedoch komplizierter.
  • Gesunde und nachhaltige Ernährung muss auch erschwinglich sein – für alle Menschen auf der Welt.
  • Eine umfassende und systemische Sicht ist unabdingbar – auch in der Schweiz. Dies gilt in Bezug auf die Definition von Nachhaltigkeit, den Ressourceneinsatz und die Agrar- und Ernährungspolitik.

Die ernährungsbedingten Treibhausgasemissionen aus Landnutzungsänderungen, Abfallwirtschaft, landwirtschaftlicher Produktion, Produktverpackungen etc. machen gemäss UNO mehr als einen Drittel der Emissionen aus, die auf menschliche Aktivitäten zurückzuführen sind.

Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung gemäss UNO in den nächsten 30 Jahren auf rund 10 Milliarden Menschen an. Die Versorgung von zusätzlich 2 Milliarden Menschen gegenüber heute mit Lebensmitteln bedeutet eine riesige globale Herausforderung – auch weil der Klimawandel Auswirkungen auf die landwirtschaftliche Produktion hat.

Dazu kommt ein Ressourcenproblem: Anfangs Dezember 2021 hat die Landwirtschafts- und Ernährungsorganisation der UNO (FAO) gewarnt, dass «die Grundlagen unserer Agrar- und Ernährungssysteme – Böden, Land und Wasser – bereits ihren ‹breaking point› erreicht haben».


Eine «planetary health diet»...

Wenn also von «gesunder und nachhaltiger Ernährung» die Rede ist, muss die Gesundheit des Planeten mitgedacht werden, der unsere Ernährung liefern muss.

2019 hat sich ein Team von 37 Spezialisten aus den Bereichen Ernährung, Ökologie, Landwirtschaft und Politikwissenschaft mit der Frage beschäftigt, wie eine nachhaltige und gesunde Ernährung auf globaler Ebene unter Berücksichtigung dieser Faktoren erreicht werden kann. In ihrer 40-seitigen Studie haben die Mitglieder der EAT-Lancet-Kommission eine allgemeine Diät für die ganze Welt skizziert. Nach ihrem Modell würde ein täglicher Teller mit 2500 kcal im Durchschnitt aus folgenden Lebensmitteln bestehen:

  • 300 g Gemüse
  • 250 g Milchprodukte
  • 232 g Vollkorngetreide
  • 200 g Obst
  • 125 g Hülsenfrüchte und Nüsse
  • 84 g tierisches Eiweiss (Fleisch, Fisch, Ei)
  • 50 g Knollen und stärkehaltige Nahrungsmittel
  • 50 g zugesetzte Fette (hauptsächlich ungesättigte Öle)
  • 0 g Zuckerzusatz, ersetzt durch Süssstoffe (31g)

Diese Ernährungsumstellung würde laut den Autoren unter anderem jährlich etwa elf Millionen vorzeitige Todesfälle verhindern, «was zwischen 19 Prozent und 24 Prozent der Gesamtzahl der Todesfälle bei Erwachsenen entspricht».

An diesen Überlegungen orientieren sich gemäss «SonntagsZeitung» auch die «Klimatarier». Ihr Konzept: Wir müssen vor allem essen, was für den Planeten gesund ist. Weniger tierische Produkte wie rotes Fleisch, Zucker oder raffiniertes Getreide. Dafür mehr Gemüse, Früchte, Obst, Nüsse oder Fisch. Ein erfreuliches Nebenprodukt dieser Diät ist, dass sie gleichzeitig für den Planeten sowie auch für den menschlichen Körper gesund ist. Gemäss dem «EAT-Lancet-Report» muss sich der Konsum von Obst, Nüssen, Gemüse und Früchten bis 2050 verdoppeln, während sich der Konsum von rotem Fleisch und Zucker mehr als halbieren muss.

Doch auch dieser Ansatz ist mit Zielkonflikten verbunden. Die Produktion von deutlich mehr pflanzenbasierter Nahrung benötigt riesige zusätzliche Agrarflächen und Ressourcen wie Wasser. Damit Urwälder und Biodiversität geschützt werden können, müssen die bestehenden Flächen deshalb so effizient wie nur möglich bewirtschaftet werden. Fruchtbares Land zu erhalten und degradierte Böden wiederherzustellen sind dabei essenziell. Wer aber mehr pflanzliche Produkte wie Obst und Gemüse auf dem «Weltteller» haben möchte, ist auch auf die entsprechenden Anbauinstrumente angewiesen. Und dazu zählen auch digitale Lösungen, alle Formen von Pflanzenschutz, neue Düngemittel und moderne Züchtungsmethoden wie die Genom-Editierung. Der Klimawandel wird den Anbau von Kulturpflanzen weltweit verändern und vielerorts erschweren. Wenn Landwirte unter diesen Bedingungen mehr produzieren sollen, brauchen sie die volle Palette an zur Verfügung stehenden Werkzeugen. In jeder Hinsicht ressourceneffiziente Ernährungssysteme werden zusätzlich auf laborbasierte Lösungen wie Mikronährstoffe und alternative Proteine wie Algen, Insekten oder cultivated meat angewiesen sein. Kurz: Innovative Technologien sind unumgänglich.

Differenziert betrachtet werden muss auch die Tierhaltung. Aus klimatischen Gründen mag die Reduktion des Fleischkonsums sinnvoll erscheinen. Doch in vielen Regionen der Erde ist die Viehzucht die einzige sinnvolle Landnutzung. Das gilt gerade auch für die Schweiz, wo ein grosser Teil der Weiden in den Alpen liegt und sich nicht für den Ackerbau eignet. In anderen Teilen der Erde sind tierische Produkte wie Fleisch praktisch die einzigen Eiweisslieferanten der Menschen. Besonders in trockenen Regionen macht die Haltung von Schafen oder Ziegen als genügsame Eiweiss- und Milchlieferanten Sinn. Im städtischen Kontext sind es häufig die Hühner, die den Menschen wichtige Proteine liefern. Ein pauschales «Tierhalteverbot» erscheint vor diesem Hintergrund als wenig sinnvoll.


... in Kontrast zur aktuellen Ernährungsrealität

Die oben skizzierte «Ideal-Diät» steht in Kontrast zu den aktuellen Konsumgewohnheiten, deren Unterschiede sich wie folgt veranschaulichen lassen:

  • in Nordamerika macht die Aufnahme von Fleisch und Milchprodukten 288 Prozent bzw. 253 Prozent dieser globalen Ernährung aus;
  • in Afrika südlich der Sahara entspricht der derzeitige Stärkekonsum 729 Prozent der von Forschern empfohlenen Zufuhr. Diese Nahrungsmittel machen drei Viertel der Ernährung aus.

Die EAT-Lancet-Kommission betont ihrerseits in der Präambel ihres zusammenfassenden Berichts: «Es gibt immer noch keinen weltweiten Konsens darüber, wie eine gesunde Ernährung aus nachhaltiger Produktion definiert werden kann und ob bis 2050 eine ‹planetarische Gesundheitsdiät› für eine Weltbevölkerung von zehn Milliarden Menschen erreicht werden kann.»


Auch die Schweiz ist gefordert

Auch in der Schweiz ist der Agrar- und Ernährungssektor verantwortlich für rund 30 Prozent der Klimagas-Emissionen. Zwei Drittel des ökologischen Fussabdrucks des Schweizer Nahrungsmittelkonsums werden im Ausland erzeugt ­– durch den Import von Nahrungsmitteln, Futtermitteln und Rohstoffen.

Um den Fussabdruck auf unserem Teller zu verkleinern, muss man den Ausgangspunkt kennen. Genau das hat ein Team im Rahmen des Schweizer Nationalfonds-Programms «NFP 69 Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion» evaluiert. Dieses Nationalfondsprojekt ging der Frage nach, wie in der Schweiz eine gesunde Ernährung gefördert werden kann. Unter welchen Bedingungen können qualitativ hochwertige und sichere Lebensmittel in ausreichender Menge und zu erschwinglichen Preisen bei möglichst effizientem Ressourceneinsatz und geringer Umweltbelastung angeboten werden?. Das Projekt lief über fünf Jahre. Die Ergebnisse der 26 einzelnen Forschungsprojekte können hier abgerufen werden.

Eines der Forschungsprojekte mass den CO2-Fussabdruck von Ernährungspraktiken, die durch die erste nationale Ernährungserhebung «menuCH» erhoben wurden. Dieser Teil des NFP 69 kam zum Schluss: «Die Schweizer Ernährungsgewohnheiten lagen zwischen 1,1 und 2,6 Tonnen CO2eq/Person/Jahr* (entspricht jeweils einer vegetarischen resp. einer fleischhaltigen Ernährung Anm.d.Red.). Das liegt über der Bundesempfehlung von 0,6 Tonnen CO2eq/Person/Jahr für alle Konsumkategorien.»

Marlyne Sahakian, Assistenzprofessorin für Soziologie an der Universität Genf, koordinierte dieses eine Forschungsteam. Sie kommentiert die Ergebnisse wie folgt: «Da selbst Veganismus zu einem Ausstoss von mehr als einer Tonne CO2-Äquivalent pro Jahr führt, müssen wir die Problematik in einem anderen Massstab überdenken und das System der Lebensmittelversorgung ändern.»

Diese Ergebnisse bleiben jedoch eine Schätzung. Es ist nahezu unmöglich, den CO2-Fussabdruck eines Tellers oder der Ernährung eines Haushalts über einen bestimmten Zeitraum zu definieren, da die Variablen so zahlreich sind und die Rückverfolgbarkeit der Transportwege in einer globalisierten Gesellschaft schwierig ist.


Nachhaltige Ernährung umfassend betrachten

Eine nachhaltige Ernährung kann nicht auf den CO2-Fussabdruck reduziert werden. Das zeigen auch die weiteren Ergebnisse des NFP 69, wobei auch diese unvollständig sind und Nachhaltigkeit vor allem mit «Umweltfreundlichkeit» gleichsetzen.

Holistischer sind da die Autoren des Buches «Une écologie de l'alimentation» des «Unesco Chairs World Food System». Sie erinnern daran, dass unter Nachhaltigkeit üblicherweise das Streben nach sozialer Gerechtigkeit, der Schaffung menschlichen Wohlbefindens (oft als wirtschaftliche Dimension dargestellt) und der Erhaltung der ökologischen Integrität der Ressourcen verstanden wird, zu denen noch eine zeitliche Dimension hinzukommt: «Die Nachhaltigkeit von heute darf nicht auf Kosten der von morgen erreicht werden». Damit treffen die Autoren einen Nerv: Es braucht zuallererst das gemeinsame Verständnis, dass Nachhaltigkeit drei Pfeiler und eine zeitliche Dimension hat. Sie kommen aber auch zum wichtigen Schluss, dass eine der entscheidenden Herausforderungen bei der Transformation der Ernährungssysteme darin besteht, verschiedene soziale und kulturelle Gruppen in den Dialog miteinzubeziehen. Es darf nicht sein, dass Menschen, die sich eine ausgewogene und nachhaltige Ernährung nicht leisten können, vergessen und nicht gehört werden. Sie haben mit anderen Herausforderungen zu kämpfen als der Diskussion um die «richtige Ernährung».


Individuelle Verantwortung vs. öffentliche Politik

Die Gewährleistung einer gesunden und nachhaltigen Ernährung kann also nicht allein in der Verantwortung der Konsumentinnen und Konsumenten liegen. Vor allem dann nicht, wenn die Verbraucherinnen und Verbraucher mit sehr begrenzten Ressourcen leben, betont Lorana Vincent, nationale Koordinatorin der französischen Vereinigung Vrac. In der letzten Ausgabe des franzöischen Magazins «Sésame», betonte sie: «Nachhaltige Ernährung darf keine individuelle Frage sein, die oft auf einen Appell an Verantwortung und Tugendhaftigkeit hinausläuft. Solche Appelle sind für Menschen in prekären Ernährungssituationen unhörbar. Ernährung muss eine politische Frage sein».

In der Tat findet die Diskussion um gesunde und nachhaltige Ernährung eher in den wohlhabenderen Sphären westlicher Gesellschaften statt. Gleichzeitig leiden gemäss FAO 2020 weltweit immer noch zwischen 720 und 811 Millionen Menschen Hunger. Und die hohen Kosten für eine gesunde Ernährung in Verbindung mit der anhaltend grossen Einkommensungleichheit machen eine gesunde Ernährung für rund 3 Milliarden Menschen, in allen Regionen der Welt im Jahr 2019 unerreichbar. Nebst dem umfassenden Nachhaltigkeitsbegriff braucht es in der Debatte auch die Einsicht, dass «Ressourcen» eben nicht nur natürliche Ressourcen bedeuten, sondern auch Arbeit, Energie und Finanzen. Eine gesunde und nachhaltige Ernährung muss auch für ärmere Menschen erschwinglich sein.

Nicolas Bricas, Sozioökonom am Centre de coopération internationale en recherche agronomique pour le développement (Cirad) und Inhaber des Unesco-Lehrstuhls für Welternährung, fasste die Problematik für Sésame so zusammen: «Es gibt eine Diskrepanz zwischen denen, die aus Gründen der Umwelt, Gesundheit oder Ethik für eine Beschränkung eintreten, und denen, die nicht verstehen, dass man ihnen diese Wahl aufzwingt. Es gibt jedoch keine wirkliche Diskussion über diese Fragen, keinen ruhigen Austausch zwischen den verschiedenen Interessengruppen, obwohl wir einen echten Gesellschaftsentwurf über unsere Produktions- und Konsummuster brauchen.»


Eine Agrarpolitik allein genügt nicht

Zu einem ähnlichen Schluss kommt die Arbeitsgruppe des NFP 69 «Gesunde Ernährung und nachhaltige Lebensmittelproduktion» in Bezug auf die Schweiz nach fünfjähriger Forschungsarbeit im Juni 2020. In ihrem Bericht wird der Bund direkt angesprochen: «Eine gesunde Ernährung und eine nachhaltige Lebensmittelproduktion können nicht aus isolierten Massnahmen innerhalb des Ernährungssystems resultieren.» Den Forschern zufolge sollten die Politikbereiche öffentliche Gesundheit, Ernährung und Landwirtschaft, die derzeit drei voneinander unabhängige Bereiche darstellen, in einem systemischen Rahmen koordiniert werden, der auf ein gesundes und nachhaltiges Ernährungssystem zum Nutzen der Bevölkerung abzielt. Es ist zu hoffen, dass die Politik diesen Ruf nach einer ganzheitlichen Sicht hört, wenn sie sich demnächst über eine Neuauflage der Agrarpolitik beugt. Es gilt, die Ressourceneffizienz im umfassenden Sinn zu berücksichtigen. Immerhin hat der Ständerat den Bundesrat aufgefordert, als Basis für die weitere Diskussion einen Bericht zum ganzen Ernährungssystem vorzulegen.

«Heidi.news» zieht das Fazit: Der perfekte Teller oder die perfekte Diät, die sowohl der menschlichen Gesundheit als auch der Nachhaltigkeit in all ihren Dimensionen (sozial, ökonomisch und ökologisch) gerecht wird, existiert nicht wirklich (noch nicht?) und ist nur ein Teil eines riesigen Puzzles.

* Das Kohlendioxidäquivalent (CO2eq) ist eine Einheit, mit der die Auswirkungen verschiedener Treibhausgase (Kohlendioxid, Methan, Ozon usw.) auf die globale Erwärmung verglichen werden können.

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