Unnötige Angst vor schleichender Vergiftung

Unnötige Angst vor schleichender Vergiftung

Der deutsche Veterinärmediziner und Mikrobiologe Andreas Hensel zeigt in einem bemerkenswerten Interview mit dem Berliner Tagesspiegel auf, wie fehlgeleitet die Risikowahrnehmung der Menschen im Zusammenhang mit Pestiziden ist. Hensel ist seit 2003 erster Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung in Berlin, welches die Sicherheit von Chemikalien untersucht. Ein besonderer Fokus liegt auf dem Verbraucherschutz.

Freitag, 29. September 2023

Andreas Hensel wird im Tagesspiegel-Interview mit der Aussage zitiert: „Die Menschen befürchten, schleichend vergiftet zu werden“. Verantwortlich für diese Fehleinschätzung sei ein ständiger Fluss von Meldungen, von Pestiziden in den Erdbeeren bis zum Krebs durch Aspartam. Aus Sicht von Hensel schüren solche Meldungen nur unnötig Panik. Sie stehen oft nicht im Einklang mit einer wissenschaftlichen Einschätzung der tatsächlichen Gefahr. Hierbei ist stets die Dosis entscheidend. Daher gibt das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung auch Auskunft darüber, welche Mengen eines Stoffes bedenkenlos konsumiert werden können – sei es pro Tag oder ein Leben lang.


«Per se kein Risiko»

Dass Pestizide in Erdbeeren gefunden werden, ist laut Hensel noch lange kein Grund zur Sorge. Die gefundenen Rückstände liegen alle weit unter den erlaubten Grenzwerten. Doch wenn die Medien verkürzt titeln „Pestizide in Erdbeeren“, reagieren viele Konsumenten mit Panik. Daraufhin bekommen die Kinder keine Erdbeeren mehr. Diese Reaktion ist aus wissenschaftlicher Sicht jedoch völlig überzogen. Pflanzenschutzmittel werden laut Hensel bei ihrer Zulassung genau daraufhin geprüft, ob sie schädlich für Mensch und Umwelt sind. Rückstände gibt es stets – auch bei sorgfältigster Anwendung, betont Hensel. „Das lässt sich nicht vermeiden und ist per se kein Risiko“, sagt er gegenüber dem Tagesspiegel. Dennoch herrscht in der Öffentlichkeit eine andere Wahrnehmung. Gemäss Hensel glauben zwei Drittel der Bevölkerung, dass solche Rückstände illegal seien. Das ist jedoch nicht der Fall. Die maximal zulässige Konzentration von Pflanzenschutzwirkstoffen und deren Abbauprodukten, die in Lebensmitteln verbleiben dürfen, wird im Zulassungsprozess genau festgelegt. Die Werte sind in der Regel deutlich niedriger als die gesundheitlich relevanten Referenzwerte. Daher besteht laut Hensel für die Konsumenten kein Risiko.


Keine Vergiftung belegt

Viele Konsumenten haben Bedenken. Sie fragen sich, ob Pflanzenschutzmittel sich im Körper ansammeln können. Doch Hensels Antwort ist eindeutig: „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass sich in Deutschland jemand durch Lebensmittel mit Pflanzenschutzmitteln vergiftet hat. Trotzdem haben viele Menschen davor Angst.“ Dabei enthalten viele Pflanzen von Natur aus giftige Substanzen, um sich gegen Fressfeinde zu schützen – das ist beispielsweise bei Zwiebeln und Chili der Fall. Weiterhin erläutert Hensel: Viele Konsumenten wählen Bio-Produkte, um Pflanzenschutzmitteln zu entgehen. Doch auch im Bio-Landbau werden Pflanzenschutzmittel verwendet. Zwar stammen viele der im Bio-Landbau zugelassenen Pflanzenschutzmittel aus natürlichen Quellen, wie etwa Kupfer oder Schwefel, aber Hensel betont, dass auch diese Mittel Schadorganismen abtöten müssen. Es entspricht guter landwirtschaftlicher Praxis, verschiedene Mittel zu kombinieren, um möglichst viele Schadorganismen zu bekämpfen. Der Bio-Landbau unterscheidet sich in dieser Hinsicht nicht von der konventionellen Landwirtschaft. Ein Mix aus verschiedenen Wirkstoffen kann sogar dazu führen, dass insgesamt weniger Mittel benötigt werden. „Viele Mittel bedeuten nicht automatisch viel Gift“, so Hensel.


Dosis entscheidend

Angesprochen auf die Absicht der EU-Kommission, den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln bis 2030 zu halbieren, meint Hensel: „Landwirte verwenden Pflanzenschutzmittel, um qualitativ hochwertige Produkte zu günstigen Preisen anzubieten.“ Besonders in den Bereichen Obst- und Weinbau sei eine Reduktion schwierig. In Deutschland werden 70 bis 80 Prozent aller Pflanzenschutzmittel im Weinbau eingesetzt. Doch Konsumenten reagieren paradox: Sie stören sich an Pflanzenschutzmittelrückständen, übersehen aber, dass Alkohol von der Internationalen Krebsagentur (IARC) als krebserregend eingestuft wird. Allerdings sagt die Einstufung eines Stoffes durch die IARC allein wenig aus. Ob ein Stoff gesundheitsschädlich ist, hängt nicht nur von seiner Beschaffenheit, sondern auch von der konsumierten Menge ab. Hensel betont: „Man sollte Hysterie vermeiden. Dass viele Menschen an Krebs erkranken, liegt weniger an der Ernährung oder Chemikalien, sondern vor allem daran, dass wir älter werden.“


Grösste Gefahr in der Küche

Angesichts der Fehleinschätzungen von Risiken im Alltag braucht es offensichtlich Aufklärung. Dem stimmt der Risikoforscher zu. Wenn es um Lebensmittel geht, sei der gefährlichste Ort die Küche, sagt Hensel und verweist auf die Gefahr von Salmonellen. Immer wieder gibt es Tote. «Aber stellen Sie sich mal vor, was los wäre, wenn in Deutschland auch nur ein Mensch durch Pflanzenschutzmittel sterben würde.» Tatsächlich erkranken in Deutschland jedes Jahr weit mehr als 100.000 Menschen an einer Lebensmittelvergiftung. Die Dunkelziffer sei indes zehn- bis zwanzigmal höher. Viele gingen gar nicht zum Arzt. Übrigens: «Wer raucht, braucht sich über die gesundheitlichen Risiken von Pflanzenschutzmittelrückständen keine Gedanken zu machen. Hier sind die gesundheitsschädlichen Effekte so viel höher, dass sie alle anderen toxikologischen Langzeitwirkungen überlagern», sagt Hensel im Interview mit dem Tagesspiegel. Das Gespräch endet mit der bemerkenswerten Aussage: «Ich kann kein Null-Risiko-Leben führen. Irgendetwas muss ich doch atmen, essen und erleben. Angst habe ich davor keine. Wer um jeden Preis jedes Risiko vermeiden will, macht sich völlig handlungs- und bewegungsunfähig und hat keine Freude am Leben mehr! Das ist dann am Ende das viel grössere Risiko ...»

Gut zu wissen

Vielfach werden in der Diskussion rund um Pflanzenschutzmittel Gefahr und Risiko durcheinandergebracht. Teilweise werden die beiden Begriffe sogar als Synonyme gebraucht. Das ist so falsch wie fahrlässig. Denn gefährliche Stoffe bedeuten nicht zwingend ein hohes Risiko. Umgekehrt können vermeintlich ungefährliche Stoffe ein Risiko beinhalten. Gefahr und Risiko sind nicht deckungsgleich.

swiss-food Artikel: Unterschied zwischen Risiko und Gefahr

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