«Wir sind mitten in einer Getreideversorgungskrise»
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«Wir sind mitten in einer Getreideversorgungskrise»

Seit 2016 führt Werner Baumann den deutschen Agrochemie- und Pharmakonzern Bayer. Im Gespräch mit der «NZZ» erklärt er, was der Ukraine-Krieg für sein Unternehmen und die Lebensmittelversorgung bedeutet.

Donnerstag, 24. März 2022

Herr Baumann, wie hat der Krieg die Lage in der Ukraine für Bayer verändert?
Die Situation vor Ort ist dramatisch. Wir verurteilen den Angriffskrieg gegen einen freien, demokratischen Staat aufs Schärfste; er ist durch nichts zu rechtfertigen. Wir tun alles, um unsere Mitarbeitenden sowie Landwirte und Patienten bestmöglich zu unterstützen. Wir haben in der Ukraine etwa 700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Mehr als die Hälfte von ihnen ist im Agrargeschäft tätig, also in den Bereichen Saatgut und Pflanzenschutzmittel. Der andere Bereich sind Medikamente. Die Saatgutproduktion und -verteilung für die Pflanzperiode März und April ist weitestgehend abgeschlossen. Engpässe gibt es jetzt beim Import, weil es an Transport- und Logistikkapazitäten fehlt. Wir haben eine Notfallversorgung bei dringend benötigten Medikamenten sichergestellt, die wir mit eigenen Konvois in die Ukraine bringen.

Wie unterstützt Bayer die ukrainischen Mitarbeitenden?
Wir haben unsere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine sehr kurzfristig zusätzlich finanziell unterstützt und die Fortzahlung der Gehälter auch für die kommenden Monate gesichert. Inzwischen sind einschliesslich Familienangehörigen rund 250 Personen ausser Land. Bei ihnen kümmern wir uns darum, wo sie untergebracht und wie sie betreut werden. Ausserdem haben der Konzern und seine Belegschaft auf verschiedenen Wegen mehrere Millionen Euro für humanitäre Hilfe bereitgestellt.

Bayer ist auch in Russland aktiv. Bleiben Sie dort?
Die dortigen Aktivitäten haben wir signifikant reduziert. Investitionen und Werbung haben wir eingestellt. Die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Medikamenten sowie den Vertrieb von Saatgut und Pflanzenschutzmitteln setzen wir hingegen fort. Ein Abbruch würde die Patientinnen und Patienten massiv treffen und Ernährungssysteme noch mehr belasten. Wir liefern beispielsweise weiterhin Krebsmedikamente, auf die Patienten in Russland angewiesen sind. Diese Logistikketten wollen wir aus ethischen Gründen weiter aufrechterhalten.

Welche Auswirkungen wird der Krieg auf die Entwicklung des Gesamtkonzerns haben?
Eine komplette Abschätzung ist derzeit schwierig. Unser Geschäft in der Ukraine hat einen Anteil von weniger als einem Prozent des Konzernumsatzes, jenes in Russland macht rund zwei Prozent aus. Wir werden die geschäftlichen Risiken abfedern können. Dazu kommen aber Sekundär- und Tertiäreffekte vor allem im Bereich Energieversorgung und Energiepreise. So ist unklar, inwieweit die Gaslieferungen aus Russland weitergeführt werden. Bayer ist in den vergangenen zehn Jahren durch die Veränderung des Portfolios deutlich weniger energieintensiv geworden.

Russland und die Ukraine sind Kornkammern Europas. Sind die Warnungen vor Hungerkatastrophen berechtigt?
Die Frage ist nicht, ob wir eine Ernährungskrise bekommen, sondern wie schlimm diese wird. Wir sind jetzt bereits mitten in einer Getreideversorgungskrise. Die Lage war wegen der Pandemie, Wetterphänomenen und relativ schwacher Ernten in Afrika und Lateinamerika schon zuvor angespannt, wie der Anstieg der Rohwarenpreise gezeigt hat. Der Krieg hat das dramatisch verschärft. Heute sind viel mehr Leute von Hunger betroffen als vor zwei oder drei Jahren. Die Krise wird sich in dem Umfang verschlimmern, in dem Regierungen und Unternehmen es nicht hinbekommen, sich zu koordinieren und konzertierte Aktionen zu starten.

Wird es noch eine signifikante Ernte in der Ukraine geben, und wird Russland weiterhin Getreide exportieren?
Wir haben jetzt das gleiche Problem wie einst bei der Pandemiebekämpfung. Als die Pandemie ausgebrochen ist, hat jede Regierung zuerst auf die nationalen Interessen geschaut und zum Teil den Export von Masken und Ähnlichem gestoppt. Solche politischen Interventionen haben die Logistikketten unterbrochen, die noch funktioniert haben. Jetzt sehen wir Ähnliches. Einige Staaten wollen ihre Getreidevorräte im Land behalten. Dadurch verschärfen sie die Krise, anstatt sie durch internationale Kooperation auf globaler Ebene gut zu managen. Wir versuchen darauf hinzuwirken, diese Fehler nicht zu wiederholen.

Welche Regionen betrifft die Getreideknappheit am meisten?
Für uns in Europa wird es teurer, aber für viele andere, vor allem in Nordafrika und im Nahen Osten, wird es zu teuer. Die Menschen dort können sich eine Verdopplung oder Verdreifachung des Brotpreises nicht leisten. Da baut sich sozialer Sprengstoff auf. Wenn die Ernährungssicherheit nicht mehr gegeben ist, ist der soziale Friede in Gefahr. Zwischen Nahrungsmittelmangel und Gewalt gibt es eine direkte Korrelation.

Im Ökolandbau sind die Erträge pro Hektare geringer als im konventionellen Landbau. Müssen die EU und Deutschland ihre auf «mehr Öko» zielende Agrarpolitik überdenken?
Mitunter werden wissenschaftliche Erkenntnisse noch immer aus weltanschaulichen Gründen negiert. Klar ist aber auch: Wir dürfen die eine Landwirtschaft nicht gegen die andere ausspielen. Sicher ist, dass die Herausforderungen auch bei der Nahrungsmittelversorgung nur durch innovative Lösungen gemeistert werden können. Bei Futtermitteln, Lebensmitteln und nachwachsenden Rohstoffen gehen wir mit dem heutigen Umfang der Landwirtschaft bereits weit über die Regenerationsfähigkeit unserer Erde hinaus. Jetzt kommt das zusätzliche Problem, dass die Zahl der Erdenbürger in den nächsten 25 Jahren laut Prognosen auf 10 Milliarden steigen dürfte. Wir müssen also den Ressourcenverbrauch reduzieren und 25 Prozent mehr Menschen ernähren. Das geht nur über eine nachhaltige Intensivierung der Landwirtschaft, also eine Reduzierung des Flächenverbrauchs und eine gleichzeitige Erhöhung der Ernteerträge. Die ökologische Landwirtschaft stellt eher Produkte her, die sich viele nicht leisten können.

Eine Intensivierung der Landwirtschaft schafft doch neue Probleme wie die Bedrohung der Artenvielfalt oder die Auslaugung der Böden.
Genau das darf eben nicht passieren. Der Übergang in eine nachhaltige Landwirtschaft mit geringeren Umweltauswirkungen und weniger CO2-Emissionen ist alternativlos. Auch in der jetzigen Situation dürfen wir unsere Anstrengungen nicht reduzieren. Vor dem Hintergrund der massiven Energiekrise kommt der modernen Landwirtschaft eine wichtige wirtschaftliche Rolle zu.

Können Sie konkreter werden?

Ich gebe ein paar Beispiele. Heute gehen allein mehr als zwei Prozent des globalen Primärenergieverbrauchs in die Produktion von Stickstoffdünger. Hülsenfrüchte können Stickstoff mithilfe von Mikroben direkt aus der Atmosphäre binden, viele andere Pflanzen können das nicht. Wenn es uns gelingt, diese Mikroben so weiterzuentwickeln und zu konfigurieren, dass auch Getreide Stickstoff binden kann, und wir dann den Einsatz von Stickstoffdünger zurückfahren, können wir allein in diesem Bereich in den nächsten Jahren den Energieverbrauch um 30 Prozent reduzieren. Wir und andere Unternehmen sind hier aktiv und machen gute Fortschritte. Über die Methoden der digitalen Landwirtschaft haben wir auch das Wissen zu Bodenbeschaffenheit, Feuchtigkeit, Nährstoffgehalt, Wetter, Saatgutsorten und vieles Weitere, um Ertragssteigerungen zu erreichen. Und schliesslich liegt bei den Kleinbauern ein grosses Potenzial. Sie machen in vielen Ländern einen Grossteil der landwirtschaftlichen Versorgung aus, doch bleibt ihr Ernteertrag wegen fehlenden Wissens und fehlenden Zugangs zu besseren Produkten oft weit hinter ihren Möglichkeiten zurück. Wir wollen bis 2030 rund 100 Millionen Kleinbauern erreichen, um deren Produktivität zu erhöhen. Inzwischen haben wir die Hälfte davon schon geschafft.

Ernährung durch Fleisch braucht viel mehr Agrarflächen als durch Getreide. Sollten wir alle Vegetarier werden?
Gehen Sie mal damit zu den Menschen, die unseren Wohlstand noch nicht erreicht haben. Auch bei uns war es ein langer Weg von der Zeit, als es einmal pro Woche einen Sonntagsbraten gab, über einen mehrmaligen Fleischkonsum pro Tag bis zum heutigen freiwilligen Verzicht. Zudem können es sich bei uns viele leisten, 30 Prozent mehr für eine Bioschmierwurst zu bezahlen. Aber weltweit kann es sich der Grossteil nicht leisten. Die Verzichtskultur in Europa wächst, ist aber im Verhältnis zu einer Weltbevölkerung, die erst mal in einen solchen Genuss kommen möchte, auf einem geringen Niveau. Deshalb werden wir global noch viele Jahre einen weiteren Anstieg des Fleischkonsums sehen.

Ihre Produktion ist weniger energieintensiv als früher. Sind damit die hohen Energiepreise für Bayer kein Thema?
Die chemische Industrie benötigt grundsätzlich eine sichere Versorgung mit Primärenergie, vor allem Gas, und gleichzeitig muss Energie bezahlbar sein. Wäre nicht mehr genug Gas da, drohten Kettenreaktionen. Die Chemieindustrie steht meist am Anfang der Wertschöpfungskette. Können Produkte nicht mehr produziert werden, die an alle anderen Industrien gehen, steht am Ende fast das ganze Land still. Gäbe es Primärenergieausfälle, käme es zu einer schweren Rezession. Für Bayer als Life-Science-Unternehmen spielen die zusätzlichen Kosten dagegen eine untergeordnete Rolle.

In Deutschland fordern viele Menschen, sofort alle Energielieferungen aus Russland zu stoppen.
Ich habe grosse Sympathie für Leute mit dieser Maximalposition, weil sie aus tiefster Überzeugung sagen, hier passiere ein himmelschreiendes Unrecht. Da sagen viele, ich heize zum Beispiel nur noch zwei von drei Zimmern und reduziere dadurch meinen Energieverbrauch um 30 Prozent. Die Lage ist aber viel komplexer. Wenn es Energieengpässe in Deutschland gäbe, würde wie beschrieben ein grosser Teil der Wirtschaft stillstehen. Die Grössenordnung der sich daraus ergebenden volkswirtschaftlichen Verwerfungen ist vielen Menschen nicht bewusst.

In den USA sind Sie noch immer mit Klagen gegen das Pflanzenschutzmittel Roundup mit dem Wirkstoff Glyphosat des 2018 von Bayer übernommenen Monsanto-Konzerns konfrontiert.
Wir haben in den letzten Monaten erhebliche Fortschritte gemacht, wenngleich das Thema noch nicht erledigt ist. Ende 2021 haben wir zwei Fälle gewonnen, und ein dritter Fall wurde von den Klägern zurückgezogen. Aus strategischen Gründen haben wir zudem früh entschieden, den beispielhaften Fall Hardeman bis zum Obersten Gerichtshof der USA zu bringen. Es geht um die Frage, ob Bundesrecht dem Recht der Bundesstaaten übergeordnet ist. Wir haben ein durch die US-Umweltbehörde EPA seit Jahrzehnten positiv reguliertes Produkt, bei dem einzelne US-Bundesstaaten Auflagen setzen, die im Widerspruch zur Regulierung auf Bundesebene sind. Wir vermuten, bis Mitte des Jahres Klarheit zu haben, ob der Oberste Gerichtshof den Fall zur Entscheidung annimmt, weil er ihn für relevant genug hält. Nimmt er ihn nicht an, greift unser 2021 vorgelegter Fünf-Punkte-Plan. Nimmt der Gerichtshof den Fall an und entscheidet dann auch inhaltlich in unserem Sinne, wird das ganze Thema der Haftung, besonders auch für zukünftige Fälle von Lymphdrüsenkrebs (NHL), weitestgehend erledigt sein.

Wie viele Rückstellungen haben Sie insgesamt getroffen für die Causa Glyphosat, wie viel Geld wurde bereits verwendet, und reichen die bisherigen Rückstellungen für jedes Szenario?
Insgesamt hatten wir für den Glyphosat-Komplex zunächst 11,7 Milliarden Dollar zurückgestellt. Im zweiten Quartal 2021 haben wir für künftige Fälle eine weitere Rückstellung von 4,5 Milliarden Dollar getroffen für den Fall, dass wir vor dem Obersten Gerichtshof scheitern. Diese Summe ist für den Umgang mit künftigen Glyphosat-Klagen wegen NHL-Erkrankungen bestimmt.

Mit dem Wissen von heute: Würden Sie Monsanto noch einmal übernehmen?
Gerade heute sehen wir doch, wie relevant die Landwirtschaft ist, wenn es darum geht, die derzeit drohende Hungersnot möglichst abzuwenden. Perspektivisch ist die Innovationsfähigkeit entscheidend, damit wir bis zu 10 Milliarden Menschen auf nachhaltige Weise ernähren können.

Dieses Interview erschien als Erstveröffentlichung am 19. März 2022 unter dem Titel «Wir sind bereits mitten in einer Getreideversorgungskrise» in der Neuen Zürcher Zeitung.

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