«Gäbe es nicht die Aussicht auf ein Patent, stünden wir heute ohne Biontech & Co. da.»
Wir alle profitieren vom medizinischen Fortschritt. Zahlreiche Krankheiten, die als unbesiegbar galten, sind überwunden, und sogar die Pandemie ist halbwegs unter Kontrolle. Warum ist das Ansehen der lebensrettenden Pharmabranche dennoch derart mies? Rainer Hank sucht in seinem Gastkommentar in der «NZZ» nach Antworten.
Freitag, 4. März 2022
In den vergangenen 100 Jahren hat sich die Lebenserwartung der Menschen verdoppelt. Die Zahl der Kinder, die ihr erstes Jahr nicht überleben, hat sich im selben Zeitraum halbiert. In den Industrieländern darf ein Neugeborener heute damit rechnen, 100 Jahre alt zu werden. Es ist eine Fortschrittsgeschichte, die vielen Menschen ein langes und gesundes Leben ermöglicht.
Die Erfindung der Anästhesie im späten 19. Jahrhundert befreite die Menschen davon, bei operativen Eingriffen unerträgliche Schmerzen erdulden zu müssen. Die Erforschung von Hygienebedingungen (Händewaschen und mehr) und die Ingenieurleistung der Entwicklung urbaner Abwassersysteme haben das Aufkommen tödlicher Seuchen reduziert. An dieser Erfolgsgeschichte ist die pharmazeutische Industrie massgeblich beteiligt. Impfstoffe sorgten dafür, dass Polio und Windpocken weitgehend ausgerottet wurden. Insulin, vor 100 Jahren zum ersten Mal aus der Bauchspeicheldrüse von Schlachtvieh gewonnen und Diabetikern gespritzt, rettet inzwischen Millionen Menschen das Leben. Brustkrebs war bis in die 1960er-Jahre eine tödliche Krankheit. Inzwischen kann er geheilt werden. Vor 30 Jahren war eine HIV-Erkrankung ein Todesurteil. Auch das hat sich geändert. Dank neuer Aids-Medikamente. Der Freiheits- und Lebensgewinn solcher Medikamente kann kaum überschätzt werden. Die pharmazeutische Innovation trägt nach einer im National Bureau of Economic Research (NBER) veröffentlichten Studie aus dem Jahr 2017 mit über 70 Prozent zu den Erfindungen der Lebenswissenschaften bei.
Wie kann es dann sein, dass in den Befragungen zur Reputation unterschiedlicher Wirtschaftszweige des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup die Pharmaindustrie auf dem letzten Platz landet? 58 Prozent der Befragten sahen die Branche im Jahr 2019 negativ, lediglich 27 Prozent votierten positiv. Das ist in Europa nicht viel besser. In der Schweiz, wo es eine forschungsstarke Pharmaindustrie gibt, rangiert nach Ausweis des Instituts Statista aus dem Jahr 2017 die Branche auf dem letzten Platz, zwei Plätze hinter der von Skandalen gebeutelten Finanzindustrie.
Die Menschen wollen nicht krank werden
Man hätte erwarten können, dass die während der Corona-Pandemie sichtbar gewordenen Erfolge der Impfstoffentwickler (Biontech, Moderna, Astra) zum Gamechanger werden. Dass diese Impfstoffe mit hohem Wirkungsgrad in einer rasenden Geschwindigkeit entwickelt wurden, spricht für die Innovations- und Anpassungskraft der Branche. In der jüngsten Reputations-Umfrage von Gallup führte der Corona-Impferfolg immerhin zu einem Aufstieg auf den drittschlechtesten Platz; ganz hinten liegen jetzt Regierung und öffentliche Administration. Wenn man so will, hat sich der Trend also gedreht: Auf weiterhin lausigem Niveau.
Gibt es Erklärungen für das miese Ansehen einer lebensrettenden Branche? Han Steutel sagt, er kenne dazu keine Studien. Der Holländer müsste sie eigentlich kennen. Er hat sein Berufsleben vor 30 Jahren bei Astra Zeneca begonnen, danach arbeitete er lange für Bristol-Myers Squibb in den Niederlanden und in Deutschland, wo er derzeit Präsident des «Verbandes forschender Arzneimittelhersteller» (vfa) ist. Steutel hat aber ein paar Vermutungen, die er seine privaten Ansichten nennt. «Die Menschen wollen nicht krank sein», sagt er. Die Arznei erinnere sie daran. Epilepsie, eine Krankheit mit gravierenden Nachteilen für die Betroffenen, kann mit Medikamenten unter Kontrolle gehalten werden. Doch lediglich 40 Prozent der an Epilepsie leidenden Patienten sind therapietreu. Das ist eine von vielen Irrationalitäten, mit denen die Menschen leben. Sie ignorieren die Krankheit und kritisieren die Hersteller der Pillen.
Steutel hat noch eine weitere Vermutung, eher aus dem Bereich der Magie. «Wir wollen keine Chemie und keine Pharmazeutika im Körper haben.» Eigentlich müsse doch etwas – die Krankheit – raus aus dem Körper. Da ist es ein Widerspruch, etwas einnehmen zu müssen. «Es muss was raus, nicht rein.»
Der Hass auf die Patente
Und dann sind da noch die Ärztinnen und Ärzte. Anders als ihr korrupter Ruf, sich ständig auf Kosten der Pharmaindustrie auf Kongressen in Davos oder der Toskana bespassen zu lassen, erweisen sie sich als besonders scharfe Kritiker der Pharmabranche: Lebensrettende Medikamente würden vom Markt genommen, wenn sich ihre Fertigung nicht mehr rentiere. Es gehe der Industrie nicht um die Patienten, sondern um den Profit, sagen viele Ärzte. Han Steutel hat eine nicht unplausible Erklärung für diesen Vorwurf: Medikamente verschwänden tatsächlich immer wieder vom Markt, zum Beispiel, wenn das Verhältnis zwischen Nebenwirkungen und Wirkungen schlecht sei. Dieses Verhältnis ist eine rein statistische Grösse; es gibt also Patienten, die das Medikament bestens vertragen und beim Arzt ihrem Ärger Luft machen, wenn sie es nicht mehr kriegen. Arzt und Patient verbünden sich gegen die profitgierige Pharmaindustrie. In Amerika mag das eklatante Drogenproblem hinzukommen, welches seit Jahren durch opioidhaltige Schmerzmittel befeuert wird. Und wer streicht den Gewinn aus dem Opioid-Geschäft ein?
Für das insgesamt negative Ansehen der Pharmariesen ist wohl auch das nicht leicht verständliche Business-Modell der Branche verantwortlich. Da geht es um den Zusammenhang zwischen teuren und riskanten Investitionen und Patenten, die als Anreiz für die Forschung unabdingbar sind. Aus Sicht der Gegner machen Patente die Pharmaindustrie zu Agenten des schlechthin Bösen. Es gebe unterschiedliche Arten von Massenmord, eine davon sei das «Patent», schrieb der Schriftsteller Ilja Trojanow in einer Kolumne der deutschen «Tageszeitung» (taz). In einer Welt extremer sozialer Unterschiede entschieden Patente darüber, wer überlebe – und wer nicht. Patenten wird die Schuld gegeben, warum in der Dritten Welt so wenig Coronaimpfstoff ankommt.
Die Gegenargumente: Forschung und Entwicklung in der Pharmaindustrie sind geprägt von Versuch und Irrtum. Nicht jedes Projekt führt zu einem wirksamen Arzneimittel. Allemal sind teure klinische Studien erforderlich, ein Umstand, welcher die Erforschung von Impfstoffen von der Entwicklung von Batterien unterscheidet. Um mit einem Medikament Geld zu verdienen, wurde vorher mit gescheiterten Medikamenten viel Geld verbrannt. Gäbe es nicht die Aussicht auf ein Patent, stünden wir heute ohne Biontech & Co. da. Mit ähnlich hohem Risiko forschen die Pharmaunternehmen jetzt an Medikamenten zur Heilung von an Corona erkrankten Patienten und hoffen darauf, dass ihre mRNA-Technologie auch bei der Behandlung von Krebs erfolgreich sein wird. Damit leisten private Unternehmen einen gesellschaftlichen Nutzen.
Der Staat profitiert von Big Pharma
Dass die Betonung des Milliarden-Risikos nicht nur Propaganda der Lobbyisten ist, sieht man an Curevac. Dem Tübinger Biotech-Unternehmen bescheinigten im Jahr 2020 viele Experten die grössten Chancen, bald mit einem Impfstoff auf den Markt zu kommen. Vor Jahren schon war SAP-Gründer Dietmar Hopp mit vielen Millionen eingestiegen. Die Aktie war ein Star. Dann scheiterte das Medikament – und der Aktienkurs sackte von 100 Euro im Juni 2021 auf jetzt 20 Euro ab.
Patente sind Monopole auf Zeit. Sie geben einem Unternehmen das Recht, eine Erfindung exklusiv zu nutzen. Will ein Konkurrent es ihm gleichtun, muss er dafür Lizenzgebühren zahlen. Geistiges Eigentum einfach plagiieren, steht unter Strafe. Ob das in der Wirtschaftsgeschichte den Fortschritt gefördert oder als Demotivation eher gebremst hat, ist auch unter liberalen Ökonomen strittig. Mondpreise kann das Patentunternehmen nicht verlangen. Wie wir gesehen haben, verhindert das Patentrecht auch nicht, dass gleichzeitig mehrere substituierbare Impfstoffe auf den Markt kommen.
Die meisten Impfstoffe gäbe es gar nicht, wäre ihre Erforschung nicht jahrzehntelang mit öffentlichen Milliarden finanziert worden, entgegnen darauf die Kritiker. Warum sollen die Staaten für die Abnahme von Impfstoffen zahlen, die sie vorher bereits mit ihren Steuergeldern finanziert haben? Die private Aneignung öffentlichen Geldes wäre selbst in der kapitalistischen Logik eine Sünde. Dieses Argument lässt sich nicht vom Tisch wischen, sondern muss von Fall zu Fall geprüft werden. Bei der Entwicklung von Moderna ist der amerikanische Staat mit Milliardensummen eingesprungen – Schätzungen sprechen von 2,5 Milliarden Dollar. Auch von der Regierung bezahlte Wissenschaftler waren beteiligt. Nun tobt ein Rechtsstreit darüber, ob Moderna allein die angemeldeten Patente auf den Impfstoff zustehen oder ob der amerikanische Steuerzahler etwas zurückerhalten soll. Bei Biontech spielte öffentliches Geld (17 Millionen Euro) eine geringe Rolle. Erst als der Impfstoff da war, wurde seine Produktion mit noch einmal 375 Millionen Euro des deutschen Wirtschaftsministeriums gefördert.
Doch was für einen Nutzen erhielt die Menschheit am Ende? Millionen Menschen sind inzwischen geimpft. Für ein solches von Privaten (zwei türkischstämmigen Wissenschaftlern) entwickeltes öffentliches Gut Steuergeld auszugeben ist doch wohl angemessen. Im Gegenzug gibt es nicht nur Virusschutz und Gesundheit, sondern auch üppige Steuerzahlungen: Allein von den auf zehn Milliarden Euro Gewinn (2021) anfallenden lokalen Gewerbesteuern von einer guten Milliarde Euro kann die hoch verschuldete Stadt Mainz sich mit einem Schlag entschulden. Das Bundesland Rheinland-Pfalz wird durch den Biontech-Geldsegen vom Nehmer zum Geber im föderalen Finanzausgleich. Die Bürger bekommen einen finanziellen Lohn vom Erfolg privater Unternehmer (und ihrer zeitlich begrenzten Patente). Der Dank gebührt den beiden Vorständen des Unternehmens, aber auch den Investoren, Milliardären, die früh schon mit Millionenbeträgen auf Biontech gesetzt haben – und dafür das volle Risiko eingingen. Bei den Investoren hat sich bislang noch niemand bedankt. Wer bedankt sich schon bei Milliardären?
Der Beitrag ist am 10. Februar auf der Meinungsseite der Neuen Zürcher Zeitung unter dem Titel «Danke, liebe Milliardäre! – Warum noch nicht einmal Biontech und Co. die Reputation der Pharmabranche verbessern» erschienen.
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