
Landwirtschaft braucht eine gemeinsame Vision
Kritiker der Landwirtschaft und des Pflanzenbaus haben aktuell leichtes Spiel. Daher sollten die Agrarverbände zusammenhalten, findet Christian Stockmar, Obmann der österreichischen IndustrieGruppe Pflanzenschutz.
Dienstag, 4. Februar 2025
Der Ackerbau ist europaweit zum Sorgenkind geworden, denn der Klimawandel und seine Folgen werden durch sich ausbreitende Schaderreger verschärft. Das Problem: Anfang der 2000er-Jahre gab es noch über 1000 Wirkstoffe, um sie zu bekämpfen. Heute sind es für den gesamten Pflanzenbau bloss noch 245 chemisch-synthetische Wirkstoffe und 77 Organismen. Besonders besorgniserregend ist die Situation im Ackerbau. Hier sind in der EU insgesamt nur mehr 153 fungizide, insektizide und herbizide Wirkstoffe zugelassen.
Was nach viel klingt, ist de facto enorm wenig. Um Resistenzen zu verhindern, braucht es mindestens drei funktionierende Wirkmechanismen gegen jeden einzelnen Schaderreger. Das ist bei vielen Kulturen nicht der Fall. Sie sind daher nur mehr schwer anzubauen, verlieren an Anbaufläche, und das trägt zur Verarmung der Fruchtfolge bei, was wiederum den Druck durch Schaderreger erhöht.
Signale auf EU-Ebene
Auch die weitere Tendenz gibt wenig Hoffnung: Bis 2035 könnten ca. 40 % der noch verfügbaren chemisch-synthetischen Wirkstoffe verloren gehen. Zudem kommen biologische Alternativen, die eine wichtige Ergänzung wären, nur langsam nach. Sie durchlaufen nämlich dieselbe Zulassung und stecken im Zulassungsstau fest.
Die Innovationskraft ist dadurch enorm gebremst. Das ist die Ursache dafür, dass die EU-Kommission ihre Ziele nicht erreicht hat, denn Innovation ist der Nummer-eins-Treiber einer Pflanzenschutzmittelreduktion, die gleichzeitig eine nachhaltige Produktion gewährleistet. Die Zahlen sprechen für sich: Durch bessere Formulierungen, bessere Wirkstoffe sowie eine bessere Technik konnten die Aufwandmengen – also die eingesetzte Wirkstoffmenge pro Hektar – seit den 1960er-Jahren um über 90 Prozent reduziert werden. In Österreich ist die vermarktete Wirkstoffmenge innerhalb von zehn Jahren um 22 Prozent gesunken.
Einen wichtigen Beitrag leistet der Werkzeugkasten des integrierten Pflanzenschutzes. Er ermöglicht gute Ernten bei sinkendem Betriebsmitteleinsatz. Chemische und biologische Pflanzenschutzmittel werden dabei erst eingesetzt, wenn Massnahmen wie Sorten- und Standortwahl, mechanische und physikalische Methoden u. v. m. nicht fruchten und eine wirtschaftliche Schadschwelle überschritten wird, die ihren Einsatz rechtfertigt. Das Motto lautet: «So wenig wie möglich, so viel wie nötig.»
Die Hersteller von Pflanzenschutzmitteln leisten ihren Beitrag und haben sich selbst verpflichtet, bis 2030 insgesamt 14 Milliarden Euro für die Entwicklung von Precision-Farming-Methoden und Biopflanzenschutz zu investieren. Aber sich ständig verändernde Regularien in Europa verhindern Planbarkeit und Rechtssicherheit, weshalb viele Wirkstoffe nicht zur Zulassung gebracht werden.
Die EU-Kommission hat nun eine Richtungsänderung angekündigt. Von einem modernen Zulassungssystem, das für alternative Wirkstoffe angepasst werden soll, ist die Rede, ebenso von mehr Unterstützung für die Betriebe und einer Stärkung des agrarischen Sektors.
Und das bringt uns zur Zukunft der Landwirtschaft und zu einer gemeinsamen Vision des Pflanzenbaus. Die Frage ist, wie wir künftig Pflanzen gesund erhalten, damit sie ihre Leistungen für die Allgemeinheit erbringen können: Selbstversorgung mit sicheren und hochwertigen Lebensmitteln, Lebensraum für Tiere und eine hohe Biodiversität, einen Beitrag zur Energiewende, regionale Wertschöpfung und vor allem wirtschaftlich erfolgreiche, landwirtschaftliche Betriebe.
Neue Massnahmen
Die IGP hat mit über 50 Vertretern von 24 Organisationen einen Diskussionsprozess gestartet. Das Ergebnis sind ein gemeinsames Zielbild und eine Vielzahl von Massnahmen in neun Bereichen:
1. ein vertrauensbasiertes Verhältnis zu den Konsumenten, die mit ihrem Kauf heimischer Produkte eine nachhaltige Wirtschaftsweise fordern und die österreichischen Landwirtinnen und Landwirte unterstützen
2. authentische Kommunikation und Information, um das Wissen bei den Konsumenten zu steigern, wobei auch in der schulischen Bildung angesetzt werden soll; Basis ist eine einheitliche und einfach verständliche Herkunftskennzeichnung
3. Bildung und Beratung der Betriebe
4. regionales Wirken als Beitrag zu Wertschöpfung, Arbeitsplätzen und attraktiven Regionen sowie die Zusammenarbeit der Betriebe
5. Forschung und Wissenschaft, die optimale Rahmenbedingungen vorfinden
6. Umwelt und Klimaschutz durch die zielgerichtete Förderung von Massnahmen
7. Integrierter Pflanzenbau, der auf einer umfassenden Forschung in allen Bereichen und dem smarten Einsatz von Technologie, Digitalisierung und Pflanzenschutzmitteln basiert
8. eine Solidarität innerhalb der Wertschöpfungskette
9. eine zukunfts- und zielorientierte Agrarpolitik, die Betriebe und Forschung als Experten intensiv einbindet, ein sicheres Einkommen gewährleistet und die Wettbewerbsfähigkeit der Landwirtinnen und Landwirte am internationalen Markt sichert
Das wird es für eine Landwirtschaft brauchen, die einen Nutzen für alle Menschen in Österreich erbringt und sie hinter sich weiss. Die Vision liegt am Tisch, ihr sollte nun ein intensiver Dialog möglichst vieler agrarischer Stakeholder zur Feinjustierung folgen. Denn es geht um den Pflanzenbau von morgen und darum, was morgen in welcher Qualität auf unseren Tellern ist.
Dr. Christian Stockmar ist Leiter der Syngenta Agro GmbH Österreich und Obmann der IndustrieGruppe Pflanzenschutz. Dieser Beitrag ist als Erstveröffentlichung in der «Presse» erschienen.
Foto: Tirza Podzeit/IGP
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