20.09.2024
Götterdämmerung
Liebe Leserinnen und Leser
Der Inflationsschub nach Corona ist ein wichtiges Thema im US-Wahlkampf. Da es auf jede Stimme ankommt, haben die Kaufkraftverluste das Potenzial, den Ausgang zu beeinflussen oder «to move the needle», wie die Amerikaner sagen. Im Vergleich zu den Preisschüben in den USA und der EU hielt sich die Teuerung bei uns zwar noch in Grenzen. Und trotzdem: Die Preise sind auch in der Schweiz wieder in den Fokus gerückt. So beschreibt die «NZZ am Sonntag» unter dem Titel «Das grosse Fressen» den harten Wettbewerb im Lebensmittelhandel. Gemäss Bundesamt für Statistik kosten heute die Nahrungsmittel rund acht Prozent mehr als im Dezember 2020. Und auch die Gesundheitskosten und Mieten sind gestiegen. Die «NZZ am Sonntag» zieht den Schluss: «Konsumentinnen und Konsumenten setzen vermehrt auf günstige Produkte statt auf Marken oder Bio. Und sie decken sich auch wieder in grossem Stil im Ausland ein. Wer also nicht in günstige Lebensmittel investiert, verliert Marktanteile – so wie die Migros jüngst.»
Tatsächlich baut der Migros-Konzern um. Er will künftig mehr auf den Preis fokussieren und schreibt in einer Mitteilung: «Die Detailhändlerin wird in den kommenden fünf Jahren für ihre Kundinnen und Kunden über acht Milliarden Franken investieren, unter anderem in günstigere Preise und neue Ladenkonzepte.» «Infosperber» beklagt, dass Migros auch bei Bio Abstriche macht – wegen der Preise. Tatsache ist jedoch: Für eine effiziente Produktion grosser Mengen braucht es alle verfügbaren Technologien – wird sich die Migros das gerade bewusst? Zumindest thematisiert sie im «Migros Magazin» den Mangel an verfügbaren Pflanzenschutzmitteln
und gibt Molekularbiologe Bruno Studer eine Plattform, der an der ETH mit neuen Züchtungsmethoden nach resilienteren Pflanzen forscht.
Auch andere sind im Preisstrudel: So wirbt Aldi mit dem Slogan «Schweizer Fleisch darf kein Luxus sein.» Und weil Aldi im direkten Preiskampf mit der Migros-Tochter Denner steht, senkt auch Denner die Preise, wie «Blick» berichtet. Auch bei Denner wird Fleisch günstiger. Während bei Nestlé der CEO gehen muss. Das Kerngeschäft solle wieder vermehrt in den Fokus rücken. Denn wie die «NZZ» in einem lesenswerten Text zu den fünf Irrtümern zu Big Food schreibt: Es hat sich gezeigt, dass das Thema Nachhaltigkeit längst nicht bei allen Investoren zuoberst auf der Agenda steht. Zumindest die einseitig verstandene Nachhaltigkeit. Denn Nachhaltigkeit hat drei Dimensionen – Ökologie, Wirtschaftlichkeit und Soziales. Das wurde allerdings im öffentlichen Diskurs vielfach vernachlässigt. Peter Maurer, früherer Schweizer Spitzendiplomat und ehemaliger Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), sagte an der Generalversammlung der International Chamber of Commerce (ICC) im Frühjahr 2024 treffend, dass sich die Politik in Europa und der Schweiz zu sehr auf die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit fokussiert und die soziale und ökonomische Dimension vernachlässigt habe. So würden sie die Bevölkerung verlieren – nicht nur, aber gerade auch im globalen Süden, wo die Herausforderungen in diesen beiden Dimensionen noch viel grösser seien als bei uns.
Der Preis ist eng mit der wirtschaftlichen und sozialen Dimension der Nachhaltigkeit verknüpft. Eine langfristige, umfassende Nachhaltigkeit gibt es nur, wenn alle Dimensionen im Lot sind.
Das ist ein ständiger Spagat. Mit «Götterdämmerung» beschrieb Richard Wagner in einer seiner Nibelungen-Opern den Untergang der Götterwelt und die Entstehung eines neuen Besseren – eine Zeitenwende. Wenn nun also die «Grossen» in der Branche auf Kerngeschäft und Preise fokussieren, so ist das vielleicht erst der Beginn einer Entwicklung in Richtung einer umfassenden und auch auf Dauer in allen drei Dimensionen ausgewogenen Nachhaltigkeit?
Im Label-Salat gingen die Wirtschaftlichkeit und das Soziale oft unter. Marketing wurde wichtiger als die umfassende Sicht. Um einen Schritt weiterzukommen, stellen sich Fragen wie: Haben sich die «Eindimensionslabel» überholt? Braucht es nicht eher wissenschaftsbasierte Standards, die Zielkonflikte adressieren wie auch Importe mitberücksichtigen? Wir importieren mehr als 50 Prozent unserer Nahrungsmittel, bei pflanzlichen Nahrungsmitteln sind es sage und schreibe 67 Prozent. Wie lassen sich alle Dimensionen der Nachhaltigkeit mit einfachen Hinweisen für alle Lebensmittelprodukte erfassen – so, dass sie auch Sinn machen?
Die neue «Lebensmittelschutz-Initiative» will gemäss Initiativtext, dass Gentechnik auf den Lebensmitteln deklariert werden muss. Doch die Zufallsmutagenese, mit der bereits über 3000 Nutzpflanzen gezüchtet worden sind, wird vom Europäischen Gerichtshof und nun auch vom Bundesrat als Gentechnik bezeichnet.
Nationalrätin und Mitinitiantin Martina Munz steht dazu: «Aus meiner Sicht ist Mutagenese Gentechnik und gehört als solche reguliert».
Auch dies ist eine Götterdämmerung. Vermeintliche Gewissheiten und Welten gehen unter. Der Mythos von der «gentechnikfreien Schweizer Landwirtschaft» fällt in sich zusammen. Genfood gibt es schon lange auch auf unserem Teller – auch dem Bio-Teller – und müsste nach der neuen Lebensmittelschutz-Initiative auch als solches bezeichnet werden. Und es kommt noch schlimmer: Zufällige Mutationen in Bio- wie konventioneller Züchtung entstehen oft durch radioaktive Bestrahlung oder chemische Behandlung. Nach der Logik der Lebensmittelschutz-Initiative müssten solche Bio-Rüebli nicht nur als Genfood, sondern zudem mit Warnzeichen für Radioaktivität und Chemie gekennzeichnet werden.
Das ist selbstverständlich Unsinn. Genauso wie die Kennzeichnung von neuen, resistenten Züchtungen, die mithilfe von Genom-Editierung entstanden sind und sich nicht von herkömmlichen Züchtungen unterscheiden lassen. Wenn alte Mythen einstürzen, sollen sie nicht umgehend durch neue ersetzt werden.
Sonst war die Götterdämmerung umsonst.
Ihre swiss-food Redaktion