
Der Fortschritt ist längst da – nutzt ihn die Schweiz?
Der Schweiz droht die Selbstverzwergung. An allen Ecken und Enden scheint man sich gegen Innovation und Fortschritt zu stemmen. Dabei wäre die Schweiz blendend aufgestellt, um vom sich laut ankündigenden grossen Innovationsschub profitieren zu können, schreibt die «NZZ».
Donnerstag, 4. November 2021
Eine Wachstumsschwäche hat die Schweiz nicht. Doch scheint das Wirtschaftswachstum der letzten Jahre eher quantitativ denn qualitativ getrieben zu sein. Seit der Finanzkrise 2008 wuchs die Arbeitsproduktivität in der Schweiz gerade mal um 0.8 Prozent jährlich. Zuvor war dieses doppelt so hoch, wie die «NZZ» schreibt. Es ist ein Phänomen, das in vielen westlichen Industrienationen beobachtet werden kann und laut Wirtschaftswissenschaftern damit zusammenhängt, dass die Inkorporation des technischen Fortschritts an eine Grenze gestossen sei. Es sei schwieriger geworden, Innovationen wirtschaftlich nutzbar zu machen – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Produktivität der Volkswirtschaften. Nicht wenige sprechen von «Stagnation».
Doch nun mehren sich die Stimmen, die in der aktuellen Corona-Pandemie eine Art Katalysator für einen neuen Innovationsschub erkennen. Und tatsächlich kann man zum Schluss gelangen, dass die Herausforderungen der Zeit an vielen Ecken und Enden Fortschritte zeitigten: Die mRNA-Technologie, auf der die Impfungen von Pfizer und Moderna basieren, könnte auch andernorts neue Therapien hervorbringen, zum Beispiel bei der Bekämpfung von Krebs. Gleiches gilt für die Genschere CRISPR/Cas. Auch dort scheinen in den kommenden Jahren medizinische Fortschritte greifbar. Die 2020 mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Technologie, dürfte auch die Pflanzenzucht revolutionieren. Diese wird dabei helfen, eine wachsende Weltbevölkerung überhaupt ernähren zu können.
Technologie-Feindlichkeit als europäischer Zeitgeist
Die Digitalisierung hat wegen der Pandemie ebenfalls Quantensprünge gemacht. Private Unternehmen bieten Weltraumflüge an, die Energiewirtschaft macht weiter Fortschritte, um nur einige der Innovationsfelder zu nennen. Es scheint fast so, als ob wir den Beginn einer neuen Welle des technologischen Fortschritts am Horizont aufsteigen sehen. Die entscheidende Frage wird sein, ob die westlichen Gesellschaften und damit auch die Schweiz bereit sind für die Umwälzungen, welche die neuen Technologien versprechen.
Leider ist man geneigt, diese Frage mit Blick auf die europäischen Gesellschaften eher negativ zu beantworten. «Hier besteht wohl der grösste Unterschied nur schon zu den 1960er-Jahren, als die bemannte Raumfahrt startete oder die friedliche Nutzung der Kernkraft einsetzte. Damals war der Technologie-Optimismus noch gross», schreibt die «NZZ». Heute würden allerdings die Bedenkenträger Oberhand haben: «Sie schwören auf das in den 1970er-Jahren entwickelte Vorsorgeprinzip, das gleichbedeutend ist mit einer Nulltoleranz gegenüber Risiken.» Der Autor ist denn auch optimistischer für die USA, wo man dem Risikoprinzip folgt, also nur das verbietet, was nachweislich Schäden verursacht. Es sei nicht erstaunlich, dass die Amerikaner viel erfolgreicher Technologiefirmen hervorgebracht hätten, «während die Europäer sich vor allem den Kopf darüber zerbrechen, wie man Unternehmen stärker besteuern kann».
Auch in der Schweiz frönt man dem Vorsorgeprinzip. Gerade erst hat der Nationalrat das Gentech-Moratorium ein weiteres Mal verlängert. Moderne Methoden wie CRISPR/Cas werden dem Anbauverbot unterstellt. «Wegen solcher technologiefeindlicher Beschlüssebevorzugen Firmen aus Europa die USA, um über grüne Gentechnik zu forschen», schreibt die «NZZ». Dabei wäre die Schweiz hervorragend aufgestellt, um vom grossen Aufbruch profitieren zu können: Fähiges Arbeitskräftepotenzial, gesunde Staatsfinanzen, hohes Bildungslevel usw. Es ist alles vorhanden. «Wenn allerdings die Gesellschaft Fortschritt weniger hoch gewichtet als früher, wird es davon aus weniger geben. Dies, und nicht ein Mangel an Ideen, wären dann der Grund dafür, dass die Schweiz vom Ende der ‹grossen Stagnation› nicht profizieren könnte.» Wer würde da widersprechen wollen?
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