
Essen als Pseudo-Religion
Prof. Thomas Ellrott von der Georg-August-Universität in Göttingen sprach an einer Veranstaltung der Branchenorganisation Swisscofel über Essen als Pseudo-Religion. Seine These: Essen ist längst nicht mehr nur die einfache Aufnahme von Kalorien. Nahrungsmittel sind heute Lifestyleprodukte, mit denen sich Menschen inszenieren. Es geht dabei um Identität. Und darum, auf der «richtigen Seite» zu stehen.
Montag, 23. Mai 2022
Einen Kuchen für den Kindergarten zu backen ist für heutige Eltern zu einem Minenfeld geworden. Darf da noch Zucker drin sein? Darf er noch Gluten enthalten? Auch Laktose gilt es nach Möglichkeit zu vermeiden. Und vegan sollte er sein. Mit diesem Szenario beschreibt Professor Dr. med. Thomas Ellrott, Leiter des Instituts für Ernährungspsychologie an der Georg-August-Universität in Göttingen, die Schwierigkeiten der modernen Ernährung an der Delegiertenversammlung von Swisscofel. Der Landwirtschaftliche Informationsdienst (LID) berichtete darüber. Häufig, so Ellrott, würden Gesundheit und Nachhaltigkeit zu den wichtigsten Beweggründen für eine bestimmte Ernährungsweise genannt. Doch es geht um mehr.
«Gefühlte Gesundheit»
Glutenfreie Lebensmittel erlebten in den letzten Jahren einen regelrechten Boom. Die Verkaufszahlen deuten gemäss Ellrott darauf hin, dass sehr viele Menschen glutenfreie Produkte kaufen, die sie aus gesundheitlichen Gründen gar nicht nötig hätten. Die Anzahl Menschen mit Diagnose Glutenunverträglichkeit sei nämlich viel geringer als die Verkaufszahlen vermuten lassen. Den Unterschied erklärt Ellrott mit dem Konzept der «gefühlten Gesundheit», das in der Wissenschaft auch als Halo-Effekt bekannt ist. Dies trifft auf Produkte zu, die einen Vorteil für die Gesundheit versprechen, diesen aber de facto gar nicht liefern. «Wenn glutenfrei draufsteht, dann denken viele Konsumentinnen und Konsumenten, dass das gesund ist – streng genommen steht da aber nur drauf, dass kein Gluten drin ist», wird der Ernährungspsychologe vom LID zitiert
.
Essen als Kult
Mit der «gefühlten Gesundheit» lässt sich gemäss Ellrott das heutige Phänomen der «Inszenierung der individualisierten Ernährungsstile» jedoch noch nicht erklären. Vielmehr geht es beim Thema Ernährung um Sinnstiftung und Identität. «So gibt es immer mehr Menschen, die sich über die Art und Weise, wie sie essen, inszenieren und auch ihre Identität dadurch formen oder beeinflussen», sagt Thomas Ellrott. In bestimmten Kreisen hat die Ernährung sogar den Rang eines Kultes oder einer Pseudo-Religion erhalten: «Das heisst, man inszeniert sich gegenüber anderen durch die Art und Weise, wie man isst – es geht um etwas Pseudo-Religiöses», sagt Ellrott in Anlehnung an David Bosshard, ehemaliger CEO des Gottlieb Duttweiler Instituts. Dieser hat einmal gesagt: «Der Kauf im Biomarkt ersetzt Teilen der Gesellschaft den Kirchgang.»
«Instagramability»
Einen Einfluss auf die gesteigerte Bedeutung des Essens sieht Ellrott auch im Aufkommen der sozialen Medien. Dort werden täglich Bilder von perfekt zubereiteten Menüs gepostet. Essen wird so zum digitalen Statussymbol. Durch die Zurschaustellung ihres Essens teilen Menschen nicht zuletzt der Community auch ihre Werte mit. Mit der Ernährung werden, so Ellrott, bestimmte Charaktereigenschaften assoziiert. Der eigene Ernährungsstil wird zu einem Bekenntnis nach aussen, das sich bis zu einem moralischen Überlegenheitsgefühl entwickeln kann.
Reduktion von Komplexität
Feste Regeln bezüglich des Essverhaltens dienen Menschen auch zur Reduktion von Komplexität: Entscheidet man sich, vegan oder glutenfrei zu essen, kommen plötzlich viele Lebensmittel nicht mehr infrage. «Das vereinfacht das Leben – man muss sich nicht ständig entscheiden», sagt Thomas Ellrott. Gelingt es, einen einmal beschlossenen Weg beizubehalten, sorge das für ein Gefühl von Selbstwirksamkeit. «Es geht letztlich um das Gefühl von Kontrolle», sagt Ellrott. Die Kontrolle über das eigene Essverhalten gebe den Menschen ein gutes Gefühl. Gesundheit und Nachhaltigkeit sind also nicht die einzigen Gründe, weshalb sich Menschen für eine bestimmte Ernährung entscheiden. Ebenso wichtige Aspekte sind gemäss dem Ernährungspsychologen Identität, Zugehörigkeit zu einer sozialen Gemeinschaft, Reduktion von Komplexität oder die Erlangung eines Gefühls von Kontrolle über sein eigenes Leben.
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