BLW-Direktor: «Jede zweite Mahlzeit importiert»
Coronapandemie, Ukraine-Krieg und die Energiekrise führen uns die Verletzlichkeit von Lieferketten vor Augen. BLW-Direktor Christian Hofer warnt im Interview mit dem «Tages-Anzeiger» vor einer zu grossen Abhängigkeit von Importen bei Nahrungsmitteln. Die Schweiz muss ihrer Ernährungssicherheit Sorge tragen.
Dienstag, 8. November 2022
Wie gross die Gefahren von zu einseitigen Abhängigkeiten in der Nahrungsmittelversorgung sind, hat gemäss Hofer der Ukraine-Krieg gezeigt. Länder, die ihren Weizen praktisch zu 100 Prozent aus der Ukraine bezogen haben, mussten auf einmal um ihre Ernährungssicherheit bangen. Das darf der Schweiz nicht passieren. Neben diversifizierten Nahrungsmittelimporten und guten Handelsbeziehungen benötige die Schweiz auch eine starke inländische Produktion. Hofer zieht Parallelen zur drohenden Stromknappheit: «Wir sind zwar in der komfortablen Lage, dank unserer hohen Kaufkraft auf dem globalen Markt grundsätzlich genügend Nahrungsmittel einkaufen zu können. Gleichwohl ist es nicht selbstverständlich, dass unser Tisch immer so gedeckt ist, wie wir das gewohnt sind.» Langandauernde Stromausfälle würden auch die Nahrungsmittelproduktion treffen und wohl zu einer Versorgungskrise führen, so Hofer.
Konstante Selbstversorgung dank Innovation
Die Schweiz muss ihrer Ernährungssicherheit Sorge tragen. Dazu braucht es auch eine starke inländische Produktion. Doch die kleinen zur Verfügung stehenden Flächen pro Kopf stellen eine Herausforderung dar. Innovative Technologien helfen. Trotz des Bevölkerungswachstums um 30 Prozent innerhalb der letzten 30 Jahre konnte der Selbstversorgungsgrad in der Schweiz in den vergangenen Jahrzehnten relativ konstant bei ungefähr 50 Prozent gehalten werden: «Dank technischem Fortschritt und Innovationen konnte die Produktion einigermassen mithalten mit der wachsenden Nachfrage.» Dennoch gibt Hofer zu bedenken: «Für jede zweite Mahlzeit, die auf den Tisch kommt, importiert die Schweiz Nahrungsmittel aus dem Ausland.»
Stärkung der Produktion erforderlich
Doch wie könnte die Schweiz ihren Selbstversorgungsgrad steigern? «Es braucht eine Stärkung der Produktion durch beispielsweise Investitionen in Züchtung und Technologie, aber auch einen gesunden und nachhaltigen Konsum», sagt Hofer. Grosses Potenzial liegt zum Beispiel bei der Verringerung von Food Waste. Schweizerinnen und Schweizer verschwenden derzeit einen Drittel der Nahrungsmittel. Zudem könnten die bestehenden Ackerflächen effizienter genutzt werden. Auf 60 Prozent dieser Flächen wird Futter für Tiere angebaut. Würde man mehr Pflanzen für den menschlichen Verzehr anbauen, könnte der Selbstversorgungsgrad gesteigert werden.
Gut zu wissen
Mehr pflanzenbasierte Nahrung heisst mehr Ackerbau. Und mehr Ackerbau bedeutet einen grösseren Bedarf an Pflanzenschutzmitteln. Doch immer mehr Mitteln wird die Zulassung entzogen. Das führt beim Anbau von vielen Kulturen – zum Beispiel Rosenkohl oder Zwiebeln – zu ernsthaften Problemen. Hier ist die Schweizer Politik nicht konsistent, ja höchst widersprüchlich. Sie läuft dem Bedürfnis der Menschen nach mehr lokaler und erschwinglicher Nahrung entgegen.
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