Doppelter Vorteil: Strom und Nahrung vom Acker
Die Nachfrage nach Nahrungsmitteln und Strom wird in Zukunft drastisch zunehmen. Gleichzeitig werden freie Flächen knapper. Wieso also Ackerflächen nicht gleichzeitig für die Nahrungsmittel- und Stromproduktion brauchen? Möglich wäre dies mit Solarpanels, die in mehreren Metern Höhe über dem Boden Strom produzieren. Darunter könnten Pflanzen mit höherem Schattenbedarf wachsen.
Dienstag, 9. August 2022
Durch das weltweite Bevölkerungswachstum nimmt der Bedarf an Nahrungsmitteln zu. Gleichzeitig wird aber auch mehr Strom benötigt. Das trifft umso mehr auf Staaten zu, die sich in absehbarer Zukunft von fossilen Brennstoffen trennen möchten. Weniger Gas und Öl – also Dekarbonisierung – bedeutet eine Zunahme der Elektrifizierung. Vor dem Hintergrund, dass auch die nutzbare Fläche immer knapper wird, macht es Sinn, über die Mehrfachnutzung von landwirtschaftlichen Flächen nachzudenken. Eine Möglichkeit dazu bietet gemäss «Tages-Anzeiger» die Agrophotovoltaik.
Doppelte Nutzung
Die Idee: Auf landwirtschaftlichen Nutzflächen können Solarpanels installiert werden, die Strom liefern und gleichzeitig das Pflanzenwachstum darunter nicht behindern. Dabei gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie die Panels aufgestellt werden. Beispielsweise in drei bis fünf Metern Höhe über dem Acker. So ist darunter immer noch genügend Platz für die Durchfahrt von Landmaschinen vorhanden. Auf Weideflächen könnten so auch Kühe unter den Panels grasen. In den heissen Sommermonaten hätten sie genügend Schatten. Die Schweiz mit ihren zahlreichen Weideflächen wäre dafür prädestiniert. Es ist aber auch vorstellbar, die Panels senkrecht stehend mit mehreren Metern Abstand dazwischen zu installieren. Die Herausforderung ist, die Photovoltaikanlagen so zu platzieren, dass sowohl die Ernten als auch die Stromproduktion maximiert werden können. Vorstellbar sind auch bewegliche Module, die sich je nach Jahreszeit der Sonneneinstrahlung anpassen können. So könnte im Winter, wenn gewisse Pflanzen wenig Sonne brauchen oder die Felder brach liegen, die Stromproduktion maximiert werden. Im Sommer können die Panels so eingestellt werden, dass genügend Licht zu den Pflanzen gelangt.
Steigerung der Produktivität
Die Idee der Agrophotovoltaik verbessert die Landnutzungseffizienz. In gewissen Fällen kann die landwirtschaftliche Produktivität mit Solarpanels sogar erhöht werden: «Es gibt auch Beispiele, wo die Produktivität des Ackerbaus trotz teilweiser Beschattung durch die Photovoltaik zugenommen hat, weil man das Mikroklima unter den Solarpanels gezielt auf die Pflanzen anpassen kann», sagt Jürg Rohrer, Professor für Ökologisches Ingenieurwesen an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil gegenüber dem «Tages-Anzeiger».
Schutz vor Wind und Wetter
Die Solarpanels schützen die Kulturen auch vor Wind und Wetter. Je nach Konstruktion bieten die Anlagen Schutz vor Hitze, Hagel, Starkregen oder sogar Frost. Das könnte die Technologie sogar für Weinbauern attraktiv machen, die regelmässig mit Hagel und Frost zu kämpfen haben. Vor dem Hintergrund des Klimawandels mit zunehmenden Wahrscheinlichkeiten von Wetterextremen, kann die Agrophotovoltaik eine Möglichkeit zur Abmilderung der Folgen sein, so Rohrer im «Tages-Anzeiger». Bei einem Versuch der ZHAW in Wädenswil konnten die Forschenden beobachten, dass im Winter unter den Panels sogar mehr Nüsslisalat wuchs als auf Feldern ohne Panels. Dies hat gemäss Rohrer wohl damit zu tun, dass die Temperatur unter den Panels höher gehalten werden konnte.
Schweiz hinkt hinterher
In Ländern wie den Niederlanden, Frankreich, Deutschland und den USA sind Agrophotovoltaik-Anlagen verschiedener Typen bereits im Einsatz. Diese werden teils sogar staatlich gefördert, beispielsweise in Deutschland. Trotz des grossen Potenzials der Agrophotovoltaik, war diese in der Schweiz bisher nicht zugelassen. Durch die erfolgte Revision der Raumplanungsverordnung durch den Bundesrat, könnte sich dies in Zukunft aber ändern. Tatsächlich dürften die Agrophotovoltaikanlagen vorerst aber nur in sehr beschränkten Gebieten zum Einsatz kommen. Denn es bestehen unter anderem Konflikte mit dem Landschafts- und Naturschutz. Aber nicht nur. An der stiefmütterlichen Behandlung der Agrophotovoltaik trägt gemäss Christian Wolf, Vertriebsleiter bei MBR Solar, auch der Bund die Verantwortung. Gemäss Bundesamt für Landwirtschaft (BLW) dürfen solche Anlagen nur dann gebaut werden, wenn sich ein Mehrwert für die Landwirtschaft nachweisen lässt. Dieser muss grösser sein als der Mehrwert der Energieproduktion. «Das heisst, eigentlich kommt Agro-PV nur für Spezialkulturen wie Beeren infrage. Dort ist der Deckungsbeitrag (DB) gegeben, und es lässt sich ein landwirtschaftlicher Mehrertrag realisieren», sagt Wolf in der «BauernZeitung». Trotz grossem Potenzial dürfe deshalb bei Kern- und Steinobst keine Agrophotovoltaik-Anlage installiert werden. Denn der Deckungsgrad ist dort drei- bis viermal geringer. Für Wolf ist die Position des BLW unverständlich.
Wertvolle Erfahrungen sammeln
Gemäss David Stickelberger von Swiss Solar kommen derzeit für Agrarphotovoltaik nur siedlungsnahe Flächen infrage. Denn ansonsten müssten lange und teuer Stromleitungen gezogen werden. Neben den Problemen mit der Regulierung, besteht aber auch noch grosser Bedarf im Bereich der Forschung. Denn wie sich Stromproduktion und Nahrungsmittelproduktion auf gleicher Fläche optimieren lassen, ist noch nicht abschliessend geklärt. Gemäss Jürg Rohrer wäre es jetzt wichtig, einige Grossanlagen zu realisieren und Erfahrungen zu sammeln: «Es gibt einfach nichts Besseres, als konkrete Erfahrungen zu sammeln, sonst redet man häufig aneinander vorbei.»
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