
«Natürlich heisst nicht unbedingt nachhaltig»
Um die wachsende Weltbevölkerung mit gesunder und nachhaltig produzierter Nahrung versorgen zu können, sind wir auf optimierte Lebensmittel angewiesen. Diese werden von Konsumentinnen und Konsumenten jedoch als «künstlich» – und damit «unnatürlich» – wahrgenommen. Und Natürlichkeit wird bevorzugt. Doch sind vermeintlich «natürliche» Produkte auch gesünder und nachhaltiger? Drei Referate gingen am Swiss-Food Talk der Optimierung von Lebensmitteln auf den Grund.
Freitag, 25. November 2022
Das Kriterium der Natürlichkeit spielt für Konsumentinnen und Konsumenten eine grosse Rolle. Die wahrgenommene Natürlichkeit beeinflusst die Wahl eines bestimmten Produktes massgeblich. Weshalb das so ist, weiss Dr. Fabienne Michel, Forscherin im Bereich Consumer Behaviour an der ETH Zürich: «Konsumentinnen und Konsumenten schätzen natürliche Lebensmittel als gesünder und umweltfreundlicher ein. Zudem sind viele der Ansicht, dass natürliche Lebensmittel besser schmecken als künstliche». Doch was verstehen Konsumentinnen und Konsumenten unter einem natürlichen Produkt?
Die wahrgenommene Natürlichkeit wird beeinflusst von Faktoren wie Anbau, Produktion und Eigenschaften des Endproduktes. Der in Zusammenarbeit mit Michel und weiteren Wissenschaftlern entwickelte «Food Natural Index» gibt weitere Antworten zum Konsumverhalten. So wird ein Produkt als natürlicher wahrgenommen, je weniger Zusatzstoffe, unerwartete Zutaten (etwa Verdickungsmittel) und verarbeitete Zutaten es enthält. Zudem wird ein Lebensmittel als umso natürlicher wahrgenommen, je eher dieses erkennbar mit Methoden der biologischen Produktion hergestellt wurde. Wie es der Begriff «wahrgenommene Natürlichkeit» impliziert, existiert jedoch keine endgültige Definition des «Natürlichen».
Natürliche Lebensmittel teuer
Unverarbeitete Lebensmittel wie frische Früchte und Gemüse würden im «Food Natural Index» von Fabienne Michel wohl als sehr natürlich eingestuft werden. Doch es gibt ein Problem: «Lebensmittel wie Früchte und Gemüse, die viele Mikronährstoffe enthalten, sind oft relativ teuer, wenn es um den Energiegehalt geht», sagt Dr. Szabi Péter, Medical Director bei DSM. Mit einem Franken lassen sich siebenmal mehr Kalorien in Form von Kartoffelchips kaufen als beispielsweise in Form von Früchten. Dies führt dazu, dass Menschen in weiten Teilen der Welt fehl- oder mangelernährt sind. Häufig sind zwar genügend Kalorien vorhanden, doch die Ernährung enthält zu wenige essenzielle Nährstoffe.
Das Problem ist auf der ganzen Welt vorhanden und wird als «hidden hunger» bezeichnet. Ein Mangel an lebenswichtigen Vitaminen und Mineralien wirkt sich kurz- oder langfristig negativ auf die menschliche Gesundheit aus. Péter drückt es so aus: «Viele Menschen essen zu viel vom Falschen». Die Herausforderung besteht deshalb darin, den Menschen nährstoffreiche und nachhaltig produzierte Lebensmittel zu günstigen Preisen anbieten zu können. DSM ist bestrebt, die Mikronährstofflücke von 800 Millionen Menschen bis 2030 durch angereicherte Grundnahrungsmittel und Nahrungsergänzungsmittel zu schliessen. Diese bewährte und kosteneffiziente Methode zur Bekämpfung von Mangelernährung erlaubt Menschen, sich gesünder zu ernähren. DSM tut dies gemeinsam mit seinen sektorübergreifenden Partnern wie dem World Food Programme, UNICEF, World Vision and Scaling Up Nutrition.
Natürlich ist nicht gleich nachhaltig
Den Bogen zum Anbau von Nahrungsmitteln schlägt der Pflanzenforscher Dr. Etienne Bucher von Agroscope. Die Herausforderungen sind klar: «Wir haben immer weniger Platz, um Nahrungsmittel zu produzieren. Hinzu kommen der Klimawandel und das Bevölkerungswachstum.» Unter diesen Bedingungen die Produktion von Lebensmitteln zu steigern, ist eine schwierige Aufgabe. Neben gesunden Produkten für die Menschen, müssen Anbauformen auch gesund für den Planeten sein. Das heisst, sie müssen mit möglichst wenig Fläche auskommen. Die Biolandwirtschaft ist für Bucher deshalb keine ideale Lösung: «Pro Fläche liefert die Biolandwirtschaft deutlich kleinere Erträge als die konventionelle Landwirtschaft.» Historisch betrachtet verdanken wir fast 70 Prozent der Produktivitätssteigerung in der Landwirtschaft der Pflanzenzüchtung, so Bucher. Doch diese Entwicklung stagniert seit über 20 Jahren.
Dies, teilweise weil zum Beispiel das Gentech-Moratorium jegliche Innovation blockiert. Neue Züchtungsverfahren (NZV) sind in der Schweiz und in ganz Europa nicht zugelassen. «Um auf kleiner Fläche mehr Ertrag zu erzielen, brauchen wir sie dringend», sagt Bucher. Die Skepsis von Politik und Gesellschaft gegenüber NZV erklärt er sich damit, dass sie als «zu wenig natürlich» wahrgenommen werden. Nur ist diese Wahrnehmung aufgrund der emotionalen Gentechdebatten von vor 20 Jahren verzerrt, so der Forscher. Die neuen Methoden sind mit den damaligen Versuchen nicht zu vergleichen. Und: «Natürlich heisst gar nicht unbedingt nachhaltig». Mit NZV können auf effizientem Weg Pflanzen ohne artfremde Gene gezüchtet werden, die robust gegenüber Schädlingen sind und weniger Pflanzenschutzmittel benötigen. Gezielte Züchtung kann Früchte und Gemüse zudem gesünder machen, indem sie mit einem höheren Gehalt an bestimmten Nährstoffen ausgestattet sind. Und trockentolerante Pflanzen können die hiesige Landwirtschaft auf den Klimawandel vorbereiten. Diese technologischen Möglichkeiten gilt es zu nutzen, wenn wir mehr gesunde Nahrungsmittel und mehr Nachhaltigkeit wollen.
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