
Die Biotechnologie hat erst begonnen
Als Frank Schirrmacher am 27. Juni 2000 die Seiten des Feuilletons der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» freiräumte, um über sechs Seiten das soeben erstmals entzifferte menschliche Genom Buchstabe für Buchstabe zu publizieren, rückte die Biotechnologie erstmals in den Fokus der breiten Öffentlichkeit.
Dienstag, 26. August 2025
Die Genomsequenzierung des Menschen und vieler weiterer Organismen, darunter zahlreicher Kulturpflanzen, weckte damals überzogene Erwartungen: Man hoffte, dass neue Therapien und verbesserte Nutzpflanzen aus den genetischen Bauplänen nur so herauspurzeln würden. Doch die wurden zunächst enttäuscht. Zwar liessen sich Gene, die für zahllose Eigenschaften und Krankheiten verantwortlich sind, rasch identifizieren, aber es erwies sich als sehr schwierig, dieses Wissen praktisch umzusetzen.
Viele Ansätze scheiterten bis vor Kurzem daran, dass sich zwar einzelne Zellen von Mensch, Tier und Pflanze leicht verändern lassen, dass es aber schwierig wird, alle Zellen eines Organismus zu erreichen. Selbst das Gene Editing von Pflanzen, das gegenüber klassischer Gentechnik bereits eine enorme Beschleunigung ermöglicht, war bislang noch vergleichsweise umständlich, weil aus der entsprechend veränderten Pflanzenzelle erst eine komplett neue Pflanze herangezogen werden muss. Das funktioniert meist nicht gleich auf Anhieb und bei vielen Pflanzen gelingt es bislang gar nicht.
Doch nun haben innerhalb weniger Wochen zwei Forschergruppen Ansätze publiziert, die sowohl die Pflanzenzucht als auch die Krebstherapie enorm vereinfachen könnten, weil sie sämtliche relevanten Zellen eines Organismus erreichen.
Werkzeug im Virus
Die erste Veröffentlichung stammt aus der Arbeitsgruppe von Jennifer Doudna, die 2020 gemeinsam mit Emmanuelle Charpentier für die Entwicklung der «Genschere» CRISPR/Cas9 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. Doudna und ihr Team haben eine Genschere entwickelt, die in ein weit verbreitetes Pflanzenvirus passt. Wird das Virus sodann mithilfe eines Bakteriums in die Blätter von Jungpflanzen eingeschleust, vermehren die Pflanzenzellen es, so dass es sich über das Gefässsystem der Pflanze in alle Zellen ausbreiten kann, einschliesslich der Keimzellen. Das Werkzeug wird in jeder infizierten Zelle aktiv. So entsteht am Ende in wenigen Stunden eine Pflanze, in der jede Zelle die gewünschte Veränderung trägt. Dabei werden auch die Keimzellen erreicht, so dass auch das Saatgut die Veränderung trägt. Das Virus wird dabei aber nicht übertragen.
Mit dieser neuen Technologie wird die bislang übliche Technik, die im Vergleich zur klassischen Gentechnik bereits um Jahre schneller war, auf einen Schritt reduziert. Es werden keinerlei Fremdgene übertragen und nicht einmal vorübergehend in die Pflanze integriert, sondern es wird lediglich die gezielte Veränderung ausgelöst, die sich dann bei allen Nachkommen dieser Pflanze findet.
Die Implikationen sind enorm. Das verwendete Virus kann sich in ca. 1000 Pflanzenarten aus etwa 80 Pflanzenfamilien vermehren. Die Methode hat also das Potenzial, die Genom-Editierung auf ein breiteres Spektrum von Pflanzen auszuweiten und die Verbesserung von Kulturpflanzen weiter zu rationalisieren. Vor allem aber ist sie so einfach und schnell, dass sie auch bei Pflanzen und Sorten anwendbar sein dürfte, die bislang aus Kostengründen vernachlässigt wurden.
Das Gene Editing wird damit auf eine neue Stufe gehoben. Veränderungen werden schneller möglich und wesentlich unkomplizierter und vor allem preiswerter werden.
Das wird vor allem Ländern in Afrika, Südostasien und Südamerika nützen, denen der Klimawandel durch Dürre, Überschwemmungen und neue Schädlinge schon jetzt zu schaffen macht. Sie könnten sich jetzt ohne hohe Investitionen auch um Sorten und Arten kümmern, die nicht für den Weltmarkt, sondern für die Ernährungssicherheit der eigenen Bevölkerung wichtig sind. Schon jetzt setzen staatliche Forschungseinrichtungen in zahlreichen afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern auf die Genschere, um lokale Sorten zu verbessern. Eine fortlaufend aktualisierte Übersicht findet sich hier.
Diese Länder dürften die neue Methode vermutlich schnell adaptieren und damit auch Kleinbauern die Errungenschaften der modernen Biotechnologie ohne finanzielle Belastungen zur Verfügung stellen.
Werkzeug im Fetttröpfchen
Eine ähnlich elegante Methode wurde soeben für Immuntherapien vorgestellt – ein Ansatz, bei dem Immunzellen des Menschen gegen infizierte oder falsch programmierte Zellen aktiviert werden. Es handelt sich um eine wesentliche Verbesserung der sogenannten CAR-T-Zelltherapie, die derzeit vor allem bei Leukämien eingesetzt wird und sehr wirksam ist.
Bei der herkömmlichen CAR-T-Zelltherapie werden T-Zellen (sie gehören zu den weissen Blutkörperchen und sind Teil des Immunsystems) ausserhalb des Körpers mittels Gentechnik so verändert, dass sie Tumorzellen, fehlerhafte Immunzellen usw. wiedererkennen und zerstören können. Dazu müssen sie nach der Veränderung zunächst vermehrt und dann per Infusion in den Körper des Patienten zurückgegeben werden.
Die Methode ist wirksam, erfordert aber spezialisierte medizinische Zentren und Labore, die nicht überall verfügbar sind. Sie dauert Wochen und kann Kosten in Höhe von mehr als 100'000 Franken verursachen. Diese Hindernisse verhindern bislang eine breite Anwendung.
Mit verschiedenen neuen Methoden können die CAR-T-Zellen neuerdings direkt im Körper hergestellt werden. Auch hier werden die Werkzeuge direkt in den Körper übertragen – in der Form von Viren oder virusähnlichen Partikeln oder sogar als nur wenige Nanometer grosse Lipidtröpfchen, die spezifisch an T-Zellen anhaften. Dabei übertragen sie ihren Inhalt, eine mRNA, in diese Zellen. Sie verursacht eine vorübergehende Veränderung der Zellen, die aber lange genug ist, um die T-Zellen gegen die Krebszellen «scharf» zu stellen. Zu dauerhaften genetischen Veränderungen kommt es nicht.
Studien an Mäusen und Affen haben gezeigt, dass diese Behandlung sehr effektiv und ohne schwere Nebenwirkungen ist. Eine gerade erschienene Studie an Affen, die Fetttröpfchen nutzte, zeigt, dass bereits wenige Stunden nach Verabreichung die Zahl der krankhaften Zellen stark reduziert war, ohne dass es schwere Nebenwirkungen gab. Die Wirkung hielt etwa zwei Wochen an. Wiederholte Anwendungen führten zu einer fast vollständigen Eliminierung von Krebszellen. Besonders spannend: Nach der Zerstörung der alten B-Zellen entstanden neue, «naive» B-Zellen. Das deutet auf eine Art Neustart des Immunsystems hin.
Klappt das auch beim Menschen, so würde die CAR-T-Behandlung günstiger, schneller und auch ausserhalb spezialisierter Kliniken anwendbar. Daher könnte sie auch auf weitere Erkrankungen ausgeweitet werden, zum Beispiel auf Autoimmunerkrankungen wie Lupus, Rheuma oder Multiple Sklerose.
Impfen gegen Metastasen
Und noch ein Fortschritt rückt gerade in greifbare Nähe, ein Durchbruch, der Krebserkrankungen den Schrecken nehmen könnte. Etwa 90 Prozent aller Menschen, bei denen Krebs diagnostiziert wird, sterben nicht am Primärtumor, der bei rechtzeitiger Erkennung gut behandelt werden kann, sondern an den Metastasen. Die entstehen, wenn Krebszellen sich vom Tumor abgesiedelt haben und an anderen Stellen im Körper zu wachsen beginnen.
Nach jahrzehntelangen Forschungsanstrengungen entwickeln jetzt gleich mehrere Biotechnologiefirmen personalisierte Krebsimpfstoffe, die auf die Tumore der jeweiligen Patienten zugeschnitten sind. Die Studien zeigen: Bei Hautkrebspatienten beispielsweise konnte das Rückfallrisiko halbiert werden. Die Technologie basiert auf mRNA und damit auf denselben Prinzipien wie zahlreiche COVID-Impfstoffe, nutzt aber genetische Informationen des Tumors, um das Immunsystem gezielt zu aktivieren.
Jahrzehntelang galt das als Science-Fiction, denn jeder Tumor hat seine eigene, charakteristische genetische Signatur, mit der er den Kontrollen des menschlichen Immunsystems entgeht. Jetzt steht sie vor der Zulassung – und könnte Therapien revolutionieren, bei denen Chemotherapie bislang die einzige Option war.
Last not least – Bakterien statt Chemiefabriken
Schon seit Jahrzehnten stellen Bakterien und andere Mikroorganismen in riesigen Tanks – Fermenter genannt – Vitamine, Aromastoffe, Aminosäuren und Medikamente her. Doch dafür werden bislang Kohlenhydrate wie Zucker und Stärke benötigt: weltweit ca. 60 Millionen Tonnen Kohlenhydrate, zumeist aus landwirtschaftlicher Produktion.
Doch mittlerweile gibt es erste Anlagen, in denen CO₂- oder methanfressende Bakterien wertvolle Rohstoffe erzeugen – zum Beispiel Öle und Tenside für Kosmetika, Vorprodukte für Bioplastik oder sogar Treibstoffe für Flugzeuge. Andere Bakterien wandeln CO₂ in brennbares Methan um, das direkt in Biogasanlagen eingespeist werden kann. Im Abwasser gelöstes CO₂ kann mithilfe von Bakterien zu Calcit (CaCO₃) mineralisiert werden; gleichzeitig entsteht dabei Wasserstoff. Selbst für den Abbau von Plastikabfällen und hochgiftigen Stoffen wie Dioxin oder den sogenannten Ewigkeitschemikalien (Per- und Polyfluoralkylsubstanzen PFAS) existieren bereits Bakterien, die mit biotechnologischen Methoden dafür optimiert wurden.
Mit diesen Innovationen rückt ein zentrales Versprechen der Biotechnologie in greifbare Nähe: nicht Hochtechnologie für reiche Industrienationen, sondern echten Nutzen für viele zu bringen. Was mit der Veröffentlichung des menschlichen Genoms als Aufbruch in ein neues biotechnologisches Zeitalter begann, erweist sich nun – fast ein Vierteljahrhundert später – als langsamer, aber unaufhaltsamer Wandel.
Autor des Artikels: Ludger Weß, promovierter Biochemiker und Wissenschaftsjournalist. Als profunder Kenner der agrarwissenschaftlichen Forschung engagiert er sich für eine faktenbasierte Debatte über neue Züchtungstechnologien.
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