
Kommt das Essen der Zukunft aus dem Labor?
Gegenwärtig ist das globale Ernährungssystem für ungefähr einen Drittel der Treibhausgasemissionen verantwortlich. Einer der grossen Treiber sind tierische Produkte, zu deren Herstellung sehr viel Landfläche benötigt wird. Start-ups tüfteln daher fieberhaft an alternativen Proteinprodukten, die mit weniger Ressourcen und ohne Tiere auskommen. Und setzen dabei auf industrielle Prozesse. Das ist richtig, denn zur Ernährung von mehr als neun Milliarden Menschen werden wir alle Ansätze und Technologien brauchen.
Dienstag, 4. April 2023
Der «Norddeutsche Rundfunk (NDR)» stellt die provokative Frage, ob angesichts der Auswirkungen der Nahrungsmittelproduktion auf das Klima das Ende der Landwirtschaft gekommen sei. Eine ernsthafte Antwort darauf müsste natürlich «Nein» lauten. Tatsache ist aber, dass die Herstellung von tierischen Produkten wie Milch, Käse oder Fleisch einen grossen Einsatz an natürlichen Ressourcen wie Land oder Wasser erfordert. Die Tierhaltung verursacht zudem Treibhausgase – insbesondere Methan –, die dem Klima schaden. In Zukunft braucht es also mehr Technologie und – wo sinnvoll – Alternativen zu tierischen Produkten. Die «NDR»-Sendung widmet sich der Frage: Wie könnten in Zukunft tierische Produkte ohne Tier aussehen?
Milch und Käse aus dem Tank
Ein Beispiel ist das Berliner Start-up FORMO. «Wir produzieren Proteine, die ohne das Tier auskommen», sagt Viktoria Reinsch, Director Brands & Communication bei FORMO. Die grundlegende Idee des Start-ups ist es, die für Lebensmittel benötigten Milchproteine anstatt von Kühen von Mikroorganismen herstellen zu lassen. Dafür nutzen die Forschenden des Unternehmens biotechnologische Methoden, um diejenigen Gene bei Kühen zu identifizieren, die für die Milchproduktion verantwortlich sind.
Ambitionierte Ziele
Danach setzen sie die Gene in Mikroorganismen ein, die dann die Milchproteine erzeugen. Für die Produktion nutzt FORMO einen Bioreaktor, in dem die Mikroorganismen die Milchproteine gemäss Angaben des Unternehmens schneller und umweltschonender herstellen können. So entsteht ein weisses Proteinpulver, das als Ausgangsprodukt für diverse «tierlose» Milchprodukte dient. 50 Millionen Euro haben Investmentfonds in das Start-up investiert. Mit seinen Produkten will FORMO zehn Prozent des europäischen Käsemarktes erobern. Das ist ambitioniert und diese Produkte werden kaum alle Käseliebhaber überzeugen. Sicher wird es aber bald Nischen geben, wo solche Produkte mit herkömmlichen tierischen Produkten auch geschmacklich mithalten können und langsam Teil unserer Esskultur werden.
«Industrie statt Bauernromantik»
Nicht nur Käse könnte zukünftig aus dem Labor kommen. Auch an alternativen Fleischprodukten wird derzeit intensiv geforscht. Jörg Reuter, Head of Food Campus Berlin, glaubt, dass Lebensmittel wie Fleisch künftig in grossen Behältern, wie man es von Brauereien kennt, hergestellt werden: «Die werden irgendwo am Stadtrand gebaut werden und eher an einen industriellen Prozess als an einen landwirtschaftlichen Prozess erinnern.» Auch Ersatzprodukte für Eier könnten auf diese Wiese hergestellt werden. So stellt die Firma «Perfeggt» aus Berlin mittles eines industriellen Prozesses Eier aus Erbsen her. Der Food Campus Berlin vergleicht die Ernährungswende mit der Industriellen Revolution. Das Ernährungssystem der Zukunft werde mehr mit Industrie als mit idyllischer Bauernromantik zu tun haben. Aber: Pflanzenbasierte Eiweisse müssen angebaut werden. Und dazu braucht es die Landwirte, Agrarflächen und landwirtschaftlichen Inputs auch in Zukunft.
Für mehr Biodiversität: Bioreaktor statt Biolandwirtschaft
Der «NDR» lässt auch die Umweltorganisation «Replanet» zu Wort kommen. Ziel der Organisation ist es, 75 Prozent der Erde verwildern zu lassen. Dazu muss Fläche gespart werden. Es gilt: Nachhaltig ist wichtiger als natürlich. Deshalb sei auch die Biolandwirtschaft keine Alternative. Auch sie fresse Fläche und schade dem Klima. Diese Aussage wird von mehreren Studien gestützt und eine produktive Landwirtschaft empfohlen. RePlanet geht noch weiter: «Es werden am Ende Tanks sein, in denen Lebensmittel produziert werden», sagt Martin Reich von Replanet. Der Food Architect Tilo Hühn von der ZHAW kommt zum selben Schluss: «Wirklich nachhaltiges Essen kommt dereinst auch aus dem Bioreaktor.» Die benötigten Reaktoren werden dereinst viel Strom brauchen. Doch auch hierfür hat die Umweltorganisation Replanet eine Lösung: Atomenergie.
Ressourceneffiziente und standortangepasste Lebensmittelproduktion
An Ambition fehlt es den in der «NDR»-Sendung vorgestellten Akteuren nicht. Und das ist auch richtig: Nur eine umfassend ressourceneffiziente Produktion unserer Lebensmittel ist wirklich nachhaltig. Unter Ressourceneffizienz versteht man den Ertrag eines bestimmten Produkts im Verhältnis zu den eingesetzten Ressourcen wie Kapital, Arbeit, Rohstoffe oder Landflächen. Eine nachhaltige Lebensmittelproduktion muss ressourceneffizient sein. Klar dürfte aber trotz Zukunftsversprechen auch dem «NDR» sein, dass die Produktion von Lebensmitteln wohl nie vollständig durch industrielle Prozesse ersetzt werden kann. Das sollte auch nicht das Ziel sein.
Landwirtschaft muss bei gleichbleibendem oder abnehmendem Einsatz von Ressourcen wie Ackerflächen, Arbeitskräften, Energie, Finanzen, Wasser, Pflanzenschutzmittel und Dünger sowie auch Schonung der natürlichen Ressourcen und des Klimas höhere Ernteerträge erzielen und erschwingliche Lebensmittel produzieren. Auch Tierhaltung kann eine sinnvolle und effiziente Nutzung von landwirtschaftlichen Flächen gewährleisten, besonders in der Schweiz, wo 70 Prozent der Agrarflächen Grasland sind. Wenn der Mensch dieses zur Nahrungsproduktion brauchen will, braucht er Wiederkäuer wie Schafe, Ziegen oder Kühe. Selbst wenn die Umstellung auf Ackerbau teilweise möglich ist – überall ist sie nicht machbar. Zusammen ergibt das die von der Schweizer Bundesverfassung vorgegebene ressourceneffiziente und standortangepasste Landwirtschaft.
Neue Wertschöpfung für Landwirtschaftsbetriebe
Zweifellos gibt es aber noch viel Potenzial für technologische Innovationen im Ernährungssystem. Alternativen zu tierischen Produkten aus dem Labor sind zu begrüssen, wenn sie auch den Qualitätsansprüchen vieler Konsumenten noch nicht genügen, noch nicht skalierbar sind und preislich noch nicht mit den Originalen mithalten können. Das zeigte das Beispiel Remilk am Swiss-Food Talk zu «Future Food». Alternative Produkte verdrängen Produkte tierischer Herkunft von hoher Qualität in den nächsten Jahrzehnten noch kaum. Aber dort, wo es für Konsumenten Sinn ergibt, werden wir uns schnell daran gewöhnen – nicht zuletzt zum Wohle des Planeten. Für die Landwirte muss das keine Hiobsbotschaft sein. Studien evaluieren bereits neue Geschäftsmodelle, wo zum Beispiel zellbasiertes Fleisch dezentral auf Bauernhöfen produziert werden könnte. Wenn es heute schon möglich ist, Shrimps auf einem Bauernhof zu halten und zu vermarkten oder biozertifizierte Mehlwürmer für den menschlichen Verzehr herzustellen, ist das keine so abwegige Idee, um (neue) Wertschöpfung auf den Bauernhöfen zu generieren.
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