Gentechnik schon lange auf Schweizer Tellern

Gentechnik schon lange auf Schweizer Tellern

Als Konsument weiss man es oft nicht: In als gentechnikfrei beworbenen Produkten steckt längst Gentechnik drin. Gentechnik-Gegnern ist das ein Dorn im Auge. Doch es ist einfacher, den «Skandal» zu verschweigen – denn etwas, was wir schon lange essen, macht uns keine Angst mehr.

Mittwoch, 18. September 2024

«Gentechfrei als Qualitätsmerkmal», titelt Martina Munz, Nationalrätin und Initiantin der Lebensmittelschutz-Initiative an der 15. Migros-Konsumententagung vom 4. September 2024. Die tags zuvor lancierte «Lebensmittelschutz-Initiative» fordert, dass sämtliche Formen von Gentechnik auf den Lebensmitteln deklariert werden müssen: «Wer gentechnisch veränderte Organismen in Verkehr bringt, muss sie […] als solche kennzeichnen», so der Initiativtext.


Mutationen durch Radioaktivität und Chemikalien

«Die beiden wichtigsten herkömmlichen Gentechniken in der Pflanzenzüchtung sind die klassische Mutagenese und die Transgenese», heisst es in einer Mitteilung des Bundesrats zur Ankündigung eines Spezialgesetzes für neue Züchtungsmethoden in der Schweiz. Tatsächlich lassen sich mit Radioaktivität oder Chemikalien eine riesige Zahl zufälliger – im Einzelnen unbekannter Mutationen – im Erbgut auslösen. Und: Solche Mutagenese-Techniken werden in der Pflanzenzüchtung seit über 50 Jahren genutzt und stetig weiterentwickelt.

Im Juli 2018 entschied auch der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass Mutagenese mit Strahlung oder Chemikalien zu einem «genetisch veränderten Organismus» (GVO) führt. Seither gelten zwar solche Pflanzen ebenfalls als «Gentechnik», sind aber dennoch von allen dafür vorgesehenen Bestimmungen ausgenommen. Insbesondere ist weder in der EU noch in der Schweiz deren Kennzeichnung notwendig. Mutagenese durch Bestrahlung oder chemische Mutation sind in der EU und der Schweiz «rechtlich erlaubte Gentechniken».

Eine unangenehme Wahrheit für alle, die Gentechnik ablehnen

Die Konsumenten wissen es meist nicht: Selbst in als «gentechnikfrei» beworbenen Produkten steckt seit Jahrzehnten Gentechnik. Zahlreiche Pflanzen, etwa fast alle Hartweizensorten, sind mithilfe dieser Züchtungstechnik entstanden. Das betrifft über 3000 Sorten. Darunter sogar solche, die in der Biolandwirtschaft angebaut werden.

Ganz anders sieht es dagegen bei neuen Verfahren wie etwa der Gen-Schere CRISPR/Cas aus. Obwohl sie auf einzelnen, genau bekannten Mutationen beruhen, unterliegen sie in der Schweiz einem absoluten Moratorium und selbst die Forschung wird eingeschränkt.

Blindspot-Artikel

Eine umfassend nachhaltige Lebensmittelproduktion und eine gesunde Ernährung sind komplexe Themenfelder. Es braucht die Betrachtung aus verschiedenen Blickwinkeln. Doch unliebsame Fakten kommen in der öffentlichen Diskussion häufig zu kurz. Wir beleuchten, was gerne im Schatten bleibt. So kommen die Zielkonflikte zur Sprache.

Mythos gentechfrei

Die Mitinitiantin der Volksinitiative «Für gentechnikfreie Lebensmittel (Lebensmittelschutz-Initiative)», Martina Munz, machte an der Migros-Konsumententagung keinen Hehl daraus: «Aus meiner Sicht ist Mutagenese Gentechnik und gehört als solche reguliert.» Demnach soll die klassische Mutagenese auch als Gentechnik deklariert werden. Eingefleischten Gentechnik-Gegnern ist also auch diese «erlaubte Gentechnik» ein Dorn im Auge. Tatsächlich folgt der Initiativtext der Lebensmittelschutz-Initiative genau jener Definition, die gemäss EuGH und Interpretation der Schweizer Behörden auch klassische Mutagenese umfasst: «Gentechnisch veränderte Organismen sind Organismen, deren genetisches Material auf eine Weise verändert worden ist, wie dies unter natürlichen Bedingungen durch Kreuzen oder natürliche Rekombination nicht vorkommt.» Damit fordert der Initiativtext eine Kennzeichnung für alle gentechnisch veränderten Organismen – auch für jene aus klassischer Mutagenese.

Doch klassische Mutagenese durch Radioaktivität oder Chemikalien ist bisher nicht in Erscheinung getreten in den öffentlichkeitswirksamen Kampagnen gegen Gentechnik. Es ist einfacher, den «Skandal» zu verschweigen. Denn etwas, was wir schon lange essen, macht uns keine Angst mehr. Zudem dürfte es schwierig werden, Mehrheiten dafür zu finden, Tausende von bewährten Nahrungsmitteln nun als GVOs zu deklarieren – oder gar mit dem Radioaktivitäts- oder dem Chemie-Warnsymbol zu versehen.

Landwirtschaft zwischen Wissenschaft und Marketing

Die Charta Qualitätsstrategie Schweizer Landwirtschaft pocht darauf: Die Schweizer Landwirtschaft verzichte auf «die Verwendung von gentechnisch veränderten Organismen». Das lange bestehende Gentechnik-Moratorium suggeriert im Volksmund dasselbe. Wie ist das vereinbar mit der Tatsache, dass auf Schweizer Feldern und Tellern seit Jahren gentechnisch veränderte Pflanzen gedeihen?

Eine Antwort darauf gibt die Sendung «Eco Spezial» von ORF mit dem Titel: «Landwirtschaft zwischen Wissenschaft und Marketing». Seit der Mensch züchtet, verändert er die DNA seines Saatguts. Ohne vorgängiges technisches Wissen scheinen aber auch unsere Kulturpflanzen «naturgegeben». Der Konsument entscheidet schliesslich darüber, was für Marketingbehauptungen wirken. Häufig springen die Konsumenten auf jene Aussagen an, welche auf Natürlichkeit abzielen und Technik ablehnen.

Eins ist klar: Der Mythos der «gentechnikfreien Schweizer Landwirtschaft» ist in wissenschaftlicher (und rechtlicher) Hinsicht unhaltbar. Wenn Mythen zusammenbrechen, kann das schmerzhaft sein für jene, die sie gepflegt haben. Und es kommt ungelegen für Initianten, die zugeben müssen, dass ihre Forderungen nach Kennzeichnung die Lebensmittel betreffen, die wir tagtäglich konsumieren…

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