30.08.2024
(Bio)Divers zum Ziel
Liebe Leserinnen und Leser
«Biodiversität spiegelt die Vielfalt des Lebens, der Gene und der Pflanzensorten, die verschiedenen Tierarten und -rassen, letztlich die Vielfalt der Lebensräume», sagte Felix Herzog, Leiter der Forschungsgruppe Agrarlandschaft und Biodiversität bei Agroscope, kürzlich an einem von swiss-food organisierten Talk. Die Vielfalt ermögliche eine Vielzahl von Interaktionen. Eine hohe Biodiversität steigert die Resilienz der Lebensräume gegen Störungen. Davon profitiere auch die Landwirtschaft.
Jede Form von Landwirtschaft ist jedoch ein Eingriff in die Biodiversität. Die Natur wird kultiviert, um Nahrungsmittel anzubauen. Doch auch jeder Hausbau, jede Strasse, jeder Sportplatz und jedes Schwimmbad ist ein Eingriff in die Natur. Der Mensch stört die Biodiversität. Vielfach bleibt ein schlechtes Gewissen, doch ein schlechtes Gewissen ist nicht unbedingt der beste Ratgeber.
So ist die Ansicht verbreitet, dass Bio die Biodiversität fördert. Doch das ist eine Illusion. Auch die Biolandwirtschaft ist ein Eingriff in die Natur. Die geringere Produktivität und der grössere Flächenverbrauch sprechen gegen die Biolandwirtschaft. Eine englische sowie eine deutsche Studie kommen übereinstimmend zum Schluss, dass sich der grössere Flächenverbrauch negativer auf die Artenvielfalt auswirkt als eine intensive Landwirtschaft auf geringeren Flächen. Und der Europäische Parlamentarische Forschungsdienst (EPRS) schreibt in seinem Bericht «Farming without plant protection products» von 2019: «Die landwirtschaftliche Flächennutzung ist unweigerlich mit einem Verlust an biologischer Vielfalt verbunden. Bewirtschaftungstechniken wie der Einsatz von Pflanzenschutzmitteln haben per Definition negative Auswirkungen auf die biologische Vielfalt, aber dieser Verlust wird bei Weitem durch den höheren Flächenverbrauch in extensiven Produktionssystemen übertroffen.»
Tatsache ist: Die landwirtschaftliche Produktion braucht Platz. In der Schweiz beträgt ihr Anteil rund ein Drittel der Gesamtfläche des Landes. Landwirtschaft profitiert von der Biodiversität. Viele Kulturpflanzen sind auf Bestäubung angewiesen. Man denke nur an die Rapsfelder. Sie bieten den Bienen Nahrung und die Landwirte bekommen im Gegenzug Bestäubungsleistungen und Honig. Die Schweizer Landwirtschaft erfüllt zu weiten Teilen die gestellte Hausaufgabe zur Förderung der Biodiversität. Sie erhöhte in den letzten Jahren den Anteil an Buntbrachen und Nützlingsstreifen auf insgesamt 19 Prozent ihrer Flächen. Mit zahlreichen Eigeninitiativen und Austauschforen arbeitet sie aber nicht nur an den Flächen, sondern auch an deren Qualität, wie der oben bereits erwähnte swiss-food Talk zeigt.
«Qualität vor Quantität» und Wirkungsmessung sind entscheidend. Zweifellos lässt sich die heutige etwas schematische Biodiversitätsförderung weiter verbessern. Das mussten auch städtische Hipster-Imker erfahren. Die Kultivierung von Honigbienen breitete sich in den letzten Jahren in Windeseile aus. Doch Honigbienen sind die Kühe der Lüfte. Das «Nutztier Honigbiene» ist ein Nahrungskonkurrent für wilde Bienenarten und Schmetterlinge. Zwischen 2012 und 2018 hat sich die Anzahl der städtischen Bienenstöcke verdreifacht. Eine Studie der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) zeigt, dass die Hobbyimkerei nicht nachhaltig ist. Sie gefährdet die Biodiversität in Städten, indem die Honigbienen zunehmend Wildinsekten verdrängen.
Die Wildbienen ernähren sich teilweise sehr spezifisch von Einzelpflanzen, während die Honigbiene ziemlich unspezifisch alle Blüten besucht, die Nektar und Pollen bieten. Wer meint, mit Honigbienen in der Stadt die Biodiversität zu fördern, befindet sich auf einem Holzweg. Im Gegenteil, um die Biodiversität in den Städten zu fördern, müsste die Anzahl der Honigbienen beschränkt werden und gleichzeitig braucht es ein grösseres Nahrungsmittelangebot für Bestäuber. Der Ruf nach mehr diversem Grün in der Stadt ist zu begrüssen, zumal das «Grün» auch die Hitze im Sommer mildert.
Der Boom der Kultivierung von Honigbienen in den Städten zeigt, wie eine einseitig verstandene Biodiversitätsförderung ihr Ziel verfehlt. Vermeintlich gut ist nicht gut. Das Beispiel zeigt aber auch, dass Stadtbewohnerinnen und Hausbesitzende eine Mitverantwortung für die Biodiversität tragen. So hat das «Aargauer Komitee» für die Biodiversitätsinitiative vor allem den Siedlungsraum im Fokus. Die Aargauer Zeitung stellt die Forderungen des Komitees unter den Titel: «Wir müssen den Asphalt knacken.»
Auch das Bundesamt für Umwelt (BAFU) weist im Bericht zum Zustand der Biodiversität in der Schweiz den Menschen in den Siedlungsräumen eine grosse Mitverantwortung für die Biodiversität zu: «Im Siedlungsraum schränken Bodenversiegelung, Stoffeinträge, Lichtemissionen, Biozide und Pflanzenschutzmittel sowie eine intensive Pflege und monotone Gestaltung von Privatgärten und öffentlichen Freiräumen die Biodiversität ein.» Erfolge in der Aufwertung von Flächen stehen einer fortschreitenden Versiegelung der Böden gegenüber. «In den letzten 20 Jahren wurden mit Unterstützung der Behörden zahlreiche Grünareale in Schweizer Städten aufgewertet oder neu angelegt, gleichzeitig aber wurden viele Grünflächen versiegelt. Als Folge der dichteren Bebauung, aber auch des Trends zu vermeintlich pflegeleichten Plätzen nahm der Versiegelungsgrad im Siedlungsgebiet weiter zu.»
Auch Katzenbesitzer kommen unter Biodiversitätsdruck. Da ihre Lieblinge auch Vögel und Blindschleichen jagen, gefährden sie die Vielfalt. Was nützen in der Landwirtschaft Lerchenfenster, wenn die Katze von nebenan die bodenbrütenden Vögel frisst? Gemäss einer Studie in Nature Communications sind 17 Prozent der von Katzen erlegten Tierarten gefährdet. Entsprechend hat auch der Verein Klimaschutz Schweiz die Katzen entdeckt und droht mit einer Volksinitiative. Sie verlangt ein «Katzenmoratorium». Denn die Katzen mit ihrem Jagdinstinkt würden Vögel, Reptilien und Amphibien töten. Und die Produktion des Futters führe zu klimaschädlichen Emissionen.
Bei der Biodiversitätsförderung haben auch Behörden zunehmend Private im Visier. Sie machen immer mehr Vorschriften für die Bepflanzung von Gärten. Im Kanton Solothurn sind Steingärten verboten worden, weitere Kantone diskutieren ein Verbot. Der Verkauf von Pflanzenschutzmitteln an Private soll massiv eingeschränkt werden. Die Aargauer Zeitung titelte kürzlich «Der Staat in meinem Garten» und listete zahlreiche Verbote und Einschränkungen auf. Gebietsfremde Pflanzen wie der beliebte Kirschlorbeer oder die Tessinerpalme dürfen in der Schweiz ab September 2024 nicht mehr verkauft werden. Mitverantwortung tragen alle. Sowohl beim Kauf von Pflanzen als auch bei der Bekämpfung von neuen Schädlingen. Im Raum Basel gilt in gewissen Gebieten ein Bewässerungsverbot für Grünflächen zur Bekämpfung des Japankäfers. Der Aufruf, den grün schillernden Käfer zu melden, gilt in der ganzen Schweiz.
Bei all diesen Massnahmen bleibt die Frage im Raum: Wo zieht man bei einem so dynamischen System wie der Biodiversität die Grenze zwischen «guten» und «schlechten» neuen Organismen? Und gibt es eine «Baseline», der gegenüber Veränderungen in der Biodiversität gemessen werden können – lokal und global?
Solche Diskussionen sind wertvoll, denn sie erhöhen das Bewusstsein und sensibilisieren für Zusammenhänge. Zusammenhänge und Vernetzung sind gerade im Bereich der Biodiversität wichtig. Denn Arten müssen zirkulieren können.
Biodiversität ist Lebensgrundlage, Quelle für Innovationen und Dienstleisterin. Genauso wichtig ist das systemische Denken hin zu einer «funktionierenden ökologischen Infrastruktur», wie der «Zürcher Bauer» in einem Leitartikel schreibt. Nebst der Vernetzung der Biodiversitätsflächen braucht es auch eine Vernetzung der Akteure und deren diversen Massnahmen.
Wildwuchs macht die Biodiversität aus, aber Wildwuchs bei den Massnahmen ohne Messung der erzielten Wirkung hemmt die Biodiversitätsförderung. Auch greift es zu kurz, nur auf eine Ursache oder einen Akteur zu zielen. Wer mit dem Finger auf andere zeigt, zeigt mit drei Fingern auf sich selber. Biodiversität geht uns alle an, nebst vernetztem Denken ist Selbstverantwortung gefragt.
John F. Kennedy prägte eines der bekanntesten Zitate in der politischen Geschichte der Vereinigten Staaten: «Frage nicht, was dein Land für dich tun kann, sondern was du für dein Land tun kannst.» Der Satz bringt die Selbstverantwortung und den Einsatz für das grössere Ganze sehr gut auf den Punkt. Wenn wir von der Biodiversität sprechen, handelt es sich tatsächlich auch um ein grösseres Ganzes.
Daher würde Kennedy vielleicht heute sagen: «Frage nicht, was dein Land für die Biodiversität tun kann, sondern was du für die Biodiversität tun kannst.»
Im kleinen Konkreten und Lokalen muss beginnen, was eine grosse Wirkung haben soll. Es braucht die (bio)diversen Massnahmen aller.
Ihre swiss-food Redaktion