17.02.2024
Nimmersatt
Liebe Leserinnen und Leser
In einem aufschlussreichen Interview im «Tages-Anzeiger» führt der Lausanner Volkswirtschaftsprofessor Howard Yu den Stellenwert grosser Unternehmen für den Wohlstand eines Landes aus: «Sie sind von grösster Bedeutung. Kein Land kann reich bleiben ohne solche globalen Unternehmen, die in seinem eigenen Gebiet ansässig sind. Denn solche nationalen Champions sind die Hauptantriebskraft für das Wachstum der ganzen Industrie. Die Grossen sorgen für das wirtschaftliche Ökosystem, in dem wiederum die kleinen und mittleren Unternehmen gedeihen können. All dies zusammen führt zu Wirtschaftswachstum, Beschäftigung und sozialer Stabilität.» Und das gilt gemäss Professor Yu nicht nur für die Schweiz: «Die globalen Konzerne sind diejenigen, die die Innovation auf der Weltbühne vorantreiben.» Entsprechend empfiehlt er der Schweizer Industrie, über Europa hinauszublicken. Denn «Europa neigt dazu, zu langsam und konservativ zu sein. Richtlinien aus Brüssel konzentrieren sich hauptsächlich auf Datenschutz und Regulierung. Sie hemmen die Innovation.» Die Brüsseler Bürokratie hat traurige Berühmtheit erlangt. Und sie scheint nimmersatt, wenn es um die Regulierung der Welt nach ihrem engen Weltbild geht. Genauso wie die kleine Raupe Nimmersatt, die sich im Bilderbuch des Kinderbuchautors Eric Carle durch alle Seiten frisst.
Niemand schien «Brüssel» bisher stoppen zu können. Doch dann platzte den Landwirten der Kragen. Dominoartig breiteten sich Bauern-Demonstrationen über die europäischen Länder aus. Wie die «NZZ» richtig analysierte, geht es dabei nicht nur ums Geld. «Die Unzufriedenheit mit der Politik ist grundsätzlicher.» Der belgische Bauernverbandschef Hendrik Vandamme wird mit der Aussage zitiert: «Es fehlt an Respekt für die Landwirtschaft.» Tatsächlich wird von der europäischen Landwirtschaft fast Unmögliches verlangt. Sie soll wirtschaftlich produzieren, die Versorgungssicherheit sicherstellen und gleichzeitig auf zentrale Produktionsmittel verzichten.
Der deutsche Bauernvertreter Anthony Lee sagt es gegenüber der Weltwoche so: «Man nimmt uns einfach Pflanzenschutzmittel weg, 50% pauschal – wie man auf die Zahl kommt, kann uns (…) keiner erzählen.» Er empfindet die Regulierungen als «völlig absurd und arrogant». Und bezeichnet die Politik im Moment als grösstes Risiko für die Landwirtschaft. Regulierungen machen den Landwirten das Leben immer schwerer.
Nun hat die Präsidentin der Europäischen Kommission nachgegeben. Ursula von der Leyen hat die Verordnung über die nachhaltige Nutzung von landwirtschaftlichen Produktionsmitteln (Sustainable Use Regulation, SUR) zurückgezogen. Die Verordnung sah bis 2030 eine Halbierung des Pflanzenschutzmitteleinsatzes vor.
Die Begründung für den Rückzug spiegelt weniger grundsätzliche Einsicht als die Angst vor den bevorstehenden Europa-Wahlen im Juni. Ursula von der Leyen lässt verlauten: «Der Vorschlag zur SUR ist ein Symbol der Polarisierung geworden», sagte sie in einer Rede vor dem Plenum des Europäischen Parlaments in Strassburg. «Er wurde vom Europäischen Parlament abgelehnt. Auch im Rat gibt es keinen Fortschritt mehr. Also müssen wir etwas tun.»
Mit anderen Worten: Die Verzweiflung der Bauern hat sich auf die Politik übertragen. Die Bauern haben mit ihrem Widerstand gegen unrealistische Vorgaben der EU einen Teilsieg errungen. Was die Landwirte jedoch auch nach den Wahlen brauchen, sind langfristig klare Rahmenbedingungen und den Zugang zu Innovationen zur Stärkung einer umfassend nachhaltigen Produktion.
Erfreulich ist deshalb grundsätzlich, dass das Europäische Parlament bei der Genom-Editierung einen Schritt in die richtige Richtung macht. Mit der Zulassung von neuen Züchtungsverfahren würden den Bauern neue Tools zur Verfügung stehen. Resistentere Pflanzen können den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln zumindest teilweise reduzieren. Doch bis dahin ist es noch weit, denn der EU-Gesetzgebungsprozess ist noch lange nicht am Ziel. Und der Widerstand ist gross. Im Parlament wurden über 250 Einzelanträge zum an sich zielführenden Vorschlag der Kommission eingebracht. Das Ziel dieses polittaktischen Manövers ist klar: Die Vorlage soll mit zusätzlichen Auflagen und Einschränkungen überladen und damit für die Praxis unbrauchbar gemacht werden. Das hat in der Vergangenheit bereits einmal funktioniert, nämlich bei den Beratungen zum Gentechnikgesetz für transgene Pflanzen. Diese unterliegen in der EU – im Gegensatz zur Schweiz – keinem Moratorium, und dennoch fristen sie aufgrund der extremen Auflagen für Zulassung, Koexistenz, Kennzeichnung, Monitoring und getrennte Warenflüsse in der Praxis nur ein Nischendasein in der europäischen Landwirtschaft. Nimmersatt bei den Auflagen als Strategie der Gegner der modernen Landwirtschaft, die ja nichts weiter will, als uns alle auf umfassend nachhaltigere Weise zu ernähren.
Dabei steckt schon längst in Produkten, die als «gentechnikfrei» bezeichnet werden, Gentechnik drin – auch in Bioprodukten: Jede Züchtung ist ein Eingriff in die Gene. Seit der Mensch Pflanzen züchtet, verändert er die DNA von Saatgut. Nachzuverfolgen in der sehenswerten Sendung «Eco Spezial» von ORF. Diese geht der Frage nach, wie Pflanzenzüchtung und Gentechnik funktionieren. Dabei wird Klartext gesprochen. Folgerichtig fordert auch ein Biobauer in der Schweiz Genom-Editierung für seinen Obstbetrieb.
Doch machen neue Züchtungsmethoden Pflanzenschutz nicht unentbehrlich. Denn die gegen alles und auf immer resistente Pflanze ist ein Ding der Unmöglichkeit. Den Bauern müssen weiterhin genügend Mittel zum Schutz ihrer Kulturen zur Verfügung stehen. Dies ist leider nicht garantiert. Nicht nur in der EU, sondern auch in der Schweiz stehen die Behörden ohne realistische Alternativen auf der Pflanzenschutz-Bremse. Der Bund entzieht Pflanzenschutzmitteln, welche die EU vom Markt nimmt, sofort die Bewilligung. Gleichzeitig beharren die Behörden bei der Zulassung neuer Wirkstoffe bis jetzt auf einem eigenständigen, schweizerischen Zulassungsprozess. Die Folgen sind eine riesige Bürokratie und ein massiver Zulassungsstau. Der Status quo ist unbefriedigend. Auch der «Tages-Anzeiger» kommentiert: «So ist es eine Zumutung für die Bauern». Die Landwirte brauchen bessere Alternativen. Man kann ihnen nicht immer mehr Pflanzenschutzmittel entziehen, ihnen nur noch alte, unspezifisch wirkende Mittel gewähren, die von der «Bio-Aura» profitieren und gleichzeitig durch den behördlichen Pendenzenberg den Zugriff auf moderne Mittel verwehren. Wem Umwelt und Produktion wichtig sind, kann die Bauern nicht alleinlassen. Europa lässt grüssen.
Doch es wird immer offensichtlicher: Die Ernteausfälle nehmen zu. Die Landwirte brauchen real existierende Lösungen. Daher ist nun Bewegung ins Dossier gekommen. Im Rahmen der Vernehmlassung zur Pflanzenschutzmittelverordnung schlägt der Bund eine Angleichung der Zulassung an die EU vor. Vater des Gedankens: Was in der pingeligen EU schon durch umfangreiche Dossiers und Studien belegt und durch x Beamte geprüft ist, soll nicht nochmals in der Schweiz durchgekaut werden. Wie in den EU-Ländern sollen auch hierzulande einfach noch Anforderungen eingeführt werden können, um lokale Gegebenheiten zu berücksichtigen. Allerdings sind die Vorschläge unbefriedigend. Das Parlament pocht zu Recht auf eine überzeugendere Lösung.
So steckt im bundesrätlichen Vorschlag für eine totalrevidierte Pflanzenschutzmittelverordnung (PSMV) eine horrende Gebührenerhöhung für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln. Diese Ansicht vertritt auch Jürg Burkhard von der Firma Sintagro, die Pflanzenschutzmittel aus dem Ausland in die Schweiz importiert und hier zur Zulassung anmeldet, sowohl gegenüber der «BauernZeitung» als auch dem «Tages-Anzeiger». Für ein neues Pflanzenschutzmittel mit neuem Wirkstoff wird die Zulassung 40-mal teurer und kostet statt bisher 2500 neu 100’000 Franken. Ist der Wirkstoff in der EU schon genehmigt, kostet es künftig 30-mal mehr. Damit lohnt sich die Zulassung in der Schweiz nicht mehr.
Der Schweizerische Bauernverband teilt die Befürchtungen des
Importeurs. «Die Wirkstoffe- und Produktevielfalt würde noch stärker
zurückgehen», sagt der Fachverantwortliche David Brugger. Und für Jürg Burkhard ist die
Harmonisierung der Vorschriften mit der EU und die gleichzeitige
Gebührenexplosion unverständlich: «Ausserdem verstehe ich nicht, warum
trotz einer Vereinfachung die Kosten für die Verwaltung nicht sinken.»
Aus Sicht der Industrie wären robuste, risikobasierte Zulassungssysteme, wie sie die führenden Agrarländer kennen, am zielführendsten. Denn das europäische Vorsorgeprinzip verhindert Innovationen statt Risiken zu managen. Es wird zum Verhinderungsprinzip. Doch es braucht einen Befreiungsschlag aus der gegenwärtigen unehrlichen Praxis von Notfallzulassungen durch Bund, Kantone und Produzentenorganisationen. Die Schweiz ist mit ihrem Zulassungsberg noch schlimmer als die EU. Ein mit der EU harmonisiertes, effizientes Zulassungsverfahren wäre ein erster Schritt auf dem Weg zu modernen und innovativen Schutzkonzepten auch für Schweizer Landwirte. Störend ist beim vorliegenden Entwurf zu einer totalrevidierten Verordnung vor allem, dass die automatische Übernahme der Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ausbleibt, verbindliche Fristen für die Zulassung fehlen, die Behörden nicht entlastet werden und mit massiven, neuen Gebühren Zulassungen faktisch verhindert und damit die inländische Produktion gefährdet wird. Wenn das Parlament nicht Gegensteuer gibt, wird auch hier die bewährte Masche des Verhinderns durch Überladen des Fuders Erfolg haben.
Denn auch die Gegner jeglichen Pflanzenschutzes sind nimmersatt. Sie haben bereits mobil gemacht und schüren Ängste, dass mindestens 50 neue problematische Wirkstoffe, die heute in Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich zugelassen seien, in Zukunft ohne nähere Prüfung in der Schweiz an Landwirte verkauft und von diesen in die Umwelt ausgebracht werden könnten. Dies die Tatsache ignorierend, dass es auch in Zukunft Firmen braucht, die Produkte im kleinen Markt Schweiz überhaupt verkaufen wollen und daher gewillt sind, Zulassungen zu beantragen. Zu einer automatischen Überschwemmung wird es nicht kommen. Politisches Handeln ist aber dringlich, um den Schutz der Kulturen auf robuster gesetzlicher Grundlage zu sichern. Und dem Konsumentenwunsch nach nachhaltig produzierten regionalen Lebensmitteln nachzukommen.
Ihre swiss-food Redaktion