30.12.2022
«Reculer pour mieux sauter» oder ein Rückblick für den Ausblick
Liebe Leserin, lieber Leser
Unlängst wurde das Wort «Strommangellage» zum Wort des Jahres 2022 gewählt. Das Thema Versorgungssicherheit gewinnt jedoch nicht nur beim Strom, sondern auch in der Landwirtschaft an Bedeutung. Das zeigt eine Befragung im Rahmen des jüngsten Agrarberichts. Nach der Coronapandemie hat der russische Überfall auf die Ukraine gezeigt, wie schnell sicher geglaubte Versorgungsketten reissen können. Der Krieg und die Blockade von ukrainischen Häfen im Schwarzen Meer führten auf den Weltmärkten zur Knappheit von Weizen. Die Preise stiegen stark an. Insbesondere für Menschen in ärmeren Ländern eine sehr schlechte Nachricht.
Die Versorgungssicherheit ist aber auch durch den Klimawandel gefährdet. Der aussergewöhnlich trockene Sommer 2022 beeinträchtigte die landwirtschaftliche Produktion auch in der Schweiz. Bereits ein Jahr zuvor vernichteten Dauerregen und Hagel die Erträge vieler Bauern. Die Unwägbarkeiten nehmen zu. Die Landwirte brauchen alle Tools, damit die Produktion in der Schweiz aufrechterhalten werden kann. Realitätssinn ist gefragt. Das schliesst auch Offenheit gegenüber neuen Technologien mit ein. Das Thema Versorgungssicherheit bewegte auch die Leserschaft von swiss-food.ch. Das zeigt unsere Sammlung von Top-Artikeln des Jahres 2022.
Klimawandel und Trockenheit
Der Sommer 2022 geht als einer der trockensten in die Geschichtsbücher ein. Ganz Europa litt unter aussergewöhnlich langen Hitzeperioden. In Norditalien führte der Po zeitweise so wenig Wasser wie noch nie. Viele Bauern gaben ihre Felder auf. Der niedrige Pegelstand führte dazu, dass Meerwasser ins Landesinnere gelangte und weite Teile der Ackerfläche in der Poebene versalzte. Ein Hoffnungsschimmer kommt aus Asien. Dort haben Forschende Reissorten gezüchtet, die den salzigen Böden erfolgreich trotzen. Gute Nachrichten kommen auch aus Argentinien. Dort ist seit dem vergangenen Jahr eine Weizensorte zugelassen, die bei Trockenheit 20 Prozent höhere Erträge liefert als herkömmliche Sorten.
Revolutionen auf dem Bauernhof ermöglichen
Die Beispiele zeigen: Offenheit für neue Sorten und Technologien sind die Voraussetzungen, damit die Landwirtschaft die wachsende Weltbevölkerung ernähren und gleichzeitig dem Klimawandel trotzen sowie Biodiversität und auch Böden schützen kann. Zu einer Revolution auf dem Bauernhof werden neue Züchtungstechnologien führen. Sie ermöglichen eine präzisere und schnellere Züchtung neuer, an den Klimawandel angepasste Sorten. In vielen Ländern Europas nimmt die Debatte über die Zulassung neuer Züchtungstechnologien, wie etwa der Genschere CRISPR/Cas, Fahrt auf. Grossbritannien will seinen Landwirten den Anbau von genom-editierten Pflanzen künftig erlauben. Und auch die Agrarminister der EU sprachen sich im Herbst für eine Öffnung gegenüber der Genschere aus. Und auch die Schweiz bewegt sich. Der Bundesrat muss bis Mitte 2024 einen Gesetzesentwurf vorlegen, der mittels neuer Züchtungsmethoden gezüchtete Pflanzensorten risikobasiert regelt.
Schweizer Produktion durch Innovation stärken
Zu neuen Technologien gehören auch neue Pflanzenschutzmittel. Auf sie kann nicht verzichtet werden, denn dauerhaft gegen alle Pilze und Schädlinge tolerante Nutzpflanzen sind eine Illusion. Wie sehr alle Arten von Landwirtschaft – ob Bio, IP oder ÖLN - auf Pflanzenschutz angewiesen sind, zeigte sich unlängst in der aktuellen Verkaufsstatistik des Bundesamts für Landwirtschaft. Der nasse Sommer 2021 führte zu einer Absatzsteigerung bei Pflanzenschutzmitteln – insbesondere bei alten Mitteln wie Kupfer, Schwefel und Paraffinöl. Neue, viel gezielter wirkende Pflanzenschutzmittel haben es dagegen schwer. Sie befinden sich seit Jahren in der Warteschleife der Behörden. Immer mehr Mitteln wird die Zulassung entzogen, ohne dass Alternativen bereitstehen. Dies hat Auswirkungen auf die Schweizer Produktion. So wird in der Schweiz aufgrund fehlender Pflanzenschutzmittel immer weniger Rosenkohl angebaut. Als Folge steigen die Importe. Das sind schlechte Nachrichten für die Versorgungssicherheit. BLW-Direktor Christian Hofer warnt: «Jede zweite Mahlzeit wird importiert».
Um dem Wunsch der Bevölkerung nach mehr Versorgungssicherheit nachzukommen, muss die Produktivität der Schweizer Landwirtschaft steigen. Doch das gelingt nur, wenn den Bauern die nötigen Werkzeuge auch zur Verfügung gestellt werden. Dafür braucht es Zulassungsverfahren ohne schädlichen «Swiss Finish» und eine Regulierung, die Risiken einschätzt und Lösungen nicht einfach verbietet oder aus Übervorsicht gar nicht zulässt. Denn ohne die Fähigkeit zur Abwägung von Chancen und Risiken würde die Menschheit heute noch in Höhlen leben. Für die Schweiz wichtig ist auch die Erkenntnis, dass Patente ein wesentlicher Treiber für die Spitzen-Rankings unseres Landes im globalen Innovationswettbewerb sind und erst ermöglichen, dass zündende Start-up-Ideen für die Lösung unserer Ressourcenprobleme das nötige Kapital bekommen.
Es braucht sachliche Debatten und eine gemeinsame Sprache. Mit dem Glossar versuchen wir Orientierungshilfe zu bieten, mit den als «Blindspot» gekennzeichneten Artikeln beleuchten wir Zusammenhänge und Fakten, die – weil unliebsam – in der öffentlichen Diskussion gerne unterschlagen werden.
«Reculer pour mieux sauter» - einen Schritt zurück machen, sich einen Überblick zu verschaffen, um dann besser entscheiden und handeln zu können. Mit diesem kleinen «Rückblick für den Ausblick» danken wir für Ihr Interesse, wünschen Ihnen einen guten Start ins neue Jahr und freuen uns auf einen spannenden Dialog im 2023!
Ihre swiss-food Redaktion