Meinungen
Jan Grenz

«Landwirtschaft spielt eine tragende Rolle»

Jan Grenz ist Dozent für Nachhaltigkeit an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL. In seinem Text beleuchtet er die historische Entwicklung des Begriffs «Nachhaltigkeit» und zeigt auf, dass letztlich alle zu einer nachhaltigeren Umwelt beitragen müssen.

Freitag, 17. September 2021

Wer im Internet nach «nachhaltige Landwirtschaft» sucht, erhält 301 000 Treffer. Einer davon ist Artikel 104 der Bundesverfassung, nach dem der Bund für «eine nachhaltige und auf den Markt ausgerichtete Produktion» sorge. Einer das Aussendepartement, das die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen vorstellt, darunter Ziel 2: «Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern». Viele Treffer führen zu Unternehmen, darunter Syngenta, John Deere, Fenaco und zahlreiche Molkereiunternehmen.


Wozu den 301 001. Text schreiben? Weil es sich lohnt, nach den Wurzeln der Nachhaltigkeit zu graben. Der Begriff wurde mehrmals lanciert. 1713 veröffentlichte Hans Carl von Carlowitz, Oberberghauptmann des Erzgebirges, das Buch «Sylvicultura oeconomica» über die «nachhaltende Nutzung» der Wälder. Damals brauchten Erzgruben, Schmelzhütten und die wachsende Bevölkerung immer mehr Holz, eine Holznot drohte. Carlowitz forderte, dem Wald nicht mehr Holz zu entnehmen, als im selben Zeitraum nachwachse. Das ist nur scheinbar banal, erfordert es doch die genaue Kenntnis von Aufwuchs und Holzentnahme. Diese wurde durch Messungen, Kartierungen, Kontrollen und Verbote erreicht. Dass der Druck auf die Wälder später trotz Wachstum von Wirtschaft und Bevölkerung nicht zunahm, hatte andere Gründe: Kohlebefeuerte Maschinen kamen auf. Kohlevorkommen mussten erschlossen, aber nicht wie Wälder gepflegt werden. Auf Nachhaltigkeit musste man in den neuen Industrien nicht achten.


Trotz vieler Fortschritte war noch die Landwirtschaft unserer Urgrosseltern um 1900 weit entfernt von der heutigen. Ein Drittel der Bevölkerung war landwirtschaftlich tätig. Die meisten der 240 000 Betriebe hatten unter fünf Hektaren Land, viele waren Selbstversorger. Man holte eine Tonne Weizen oder fünf Tonnen Kartoffeln von der Hektare, die Kuh gab 2800 kg Milch. Traktor und N-Dünger, Antibiotika, Radio, Autos und Ferienreisen waren Zukunftsmusik. Ein damals Zwanzigjähriger hatte bei der Geburt eine Lebenserwartung von rund 40 Jahren gehabt, die Kindersterblichkeit war hoch. Langsam brachten Mineraldünger, Traktoren und Pflanzenschutzmittel das Industriezeitalter aufs Land. Landwirtschaft wurde zum kapitalintensiven Metier. Die Abhängigkeit von Industrie und Kapital verursachte bei manchen ein Unbehagen, aus dem die biologische Landwirtschaft wuchs. Vieles wurde für eine gesunde Landwirtschaft und Ernährung ausprobiert. Den Forstbegriff «nachhaltig» verwendete dabei niemand.


Die Menschheit gab weiter Gas und eignete sich immer mehr Welt an. Besass ein Haushalt um 1900 etwa 180 Gegenstände, sind es heute 10 000. Wir verbrauchen achtmal so viel Energie, leben doppelt so lange, holen das Achtfache aus der Hektare und das Dreifache aus der Kuh. Wir leben in einem 1,8°C wärmeren Klima und verlieren jährlich Tausende Tonnen Nährstoffe in die Umwelt. Dass der Preis des Wohlstands einmal zu hoch werden könnte, wurde schon in den 1970ern diskutiert. Das führte zur Wiedergeburt der Nachhaltigkeit in der Politik. 1987 forderte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung, nachhaltige Entwicklung müsse beides leisten: die Möglichkeit für alle Menschen, auch die künftigen, ihre Bedürfnisse zu decken. Und den Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Am Erdgipfel 1992 in Rio de Janeiro bekannten sich fast alle Staaten zur nachhaltigen Entwicklung und tun es mit den Nachhaltigkeitszielen bis heute. Während seit Carlowitz Bevölkerung und Wirtschaft enorm gewachsen sind, sank der Anteil der Landwirtschaft auf 3% der Erwerbstätigen und 0,6% der Wirtschaftsleistung. Manche sehen darin ein Missverhältnis und die Landwirtschaft als Sektor, der viel verschmutze und wirtschaftlich wenig beitrage. Das ist eine Fehleinschätzung. Die Landwirtschaft ist unsere grösste Schnittfläche mit der natürlichen Umwelt und untrennbar mit der ganzen Gesellschaft verbunden. In einem hundertstöckigen Hochhaus würde niemand die Bewohner des Erdgeschosses für ihren Landverbrauch kritisieren oder dafür, dass Wasser durch ihr Stockwerk ins Haus hinein- und Abwasser hinausgelangt.


Die Landwirtschaft hat eine tragende Rolle für das Erreichen einer nachhaltigen Entwicklung. Verantwortlich für diese Entwicklung sind aber wir alle! Mit der biologischen und der integrierten Landwirtschaft gibt es in der Schweiz gleich zwei Systeme, die wirkungsvoll an einer nachhaltigen Landwirtschaft arbeiten und den Konsumenten ein Stück weit ermöglichen, Verantwortung zu übernehmen. Auch daneben gibt es viele Erfolgsgeschichten. Aus ihnen können wir für die Bewältigung kommender Krisen lernen. Etwa dies: Messungen, Kartierungen, Kontrollen und Verbote braucht es wohl noch immer. Aber vor allem erreichen wir eine nachhaltige Entwicklung nur miteinander.

Jan Grenz ist Dozent für Nachhaltigkeit an der Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL. Dieser Beitrag erschien als Erstveröffentlichung in der Jubiläumsbeilage des Schweizer Bauer vom 11. September 2021.

«Die Genschere revolutioniert auch den biologischen Pflanzenschutz»

Urs Niggli

Urs Niggli

Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science

«Neue genomische Verfahren in der Pflanzenzüchtung: Nachhaltigkeit braucht Innovation»

Philipp Aerni

Philipp Aerni

Wirtschaftsprofessor & Experte Corporate Responsibility and Sustainability

«Carte Blanche: Überzogene Anti-Alkohol-Strategie»

Philipp Schwander

Philipp Schwander

Master of Wine, Weinexperte und Unternehmer

«Landwirtschaft braucht eine gemeinsame Vision»

Dr. Christian Stockmar

Dr. Christian Stockmar

Obmann der IndustrieGruppe Pflanzenschutz, Österreich

«Reine Selbstüberschätzung»

Patrick Dümmler

Patrick Dümmler

Ressortleiter Nachhaltigkeit und Wirtschaftspolitik des Schweizerischen Gewerbeverbandes

«Wir sind Europas Schlusslicht beim Pflanzenschutz»

David Brugger

David Brugger

Leiter Pflanzenbau, Schweizer Bauernverband

«Die orangen Elefanten im Raum»

Jürg Vollmer

Jürg Vollmer

Agrarjournalist

«Neuorientierung bei der Gentechnik»

Raphael Bühlmann

Raphael Bühlmann

Land- und Betriebswirt FH.

«Politik scheint resistent gegen Fakten»

Beat Keller

Beat Keller

Professor für Molekulare Pflanzenbiologie an der Universität Zürich

«Präzise Verfahren brauchen liberale Regeln»

Jürg Niklaus

Jürg Niklaus

Jürg Niklaus ist promovierter Jurist und setzt sich für Pflanzenzüchtung ein.

«Mehr Pestizide, mehr Gentechnik: Wie wir den Hunger überwinden»

Markus Somm

Markus Somm

Journalist, Publizist, Verleger und Historiker

«Die Angst vor Gentech-Pflanzen ist unnötig»

Anke Fossgreen

Anke Fossgreen

Leiterin Wissenteam Tamedia

«Politik darf Nahrungsmittelpreise nicht weiter in die Höhe treiben»

Babette Sigg Frank

Babette Sigg Frank

Präsidentin Konsumentenforum

«Chance der grünen Biotechnologie nutzen»

Roman Mazzotta

Roman Mazzotta

Länderpräsident Syngenta Schweiz

«Nachhaltigkeit bedeutet mehr»

Hendrik Varnholt

Hendrik Varnholt

Ressortleiter Industrie bei der Lebensmittel Zeitung

«Ein Drittel Bio löst das Problem nicht»

Olaf Deininger

Olaf Deininger

Entwicklungs-Chefredakteur Agrar-Medien

«Allein mit ökologischen Methoden werden wir es nicht schaffen»

Saori Dubourg

Saori Dubourg

Mitglied des Vorstands der BASF SE

«Die meisten Ängste gegenüber Pestiziden sind unbegründet»

Michelle Miller

Michelle Miller

Kolumnistin bei Genetic Literacy Project und AGDaily

Neue Technologien braucht die Landwirtschaft

Erik Fyrwald

Erik Fyrwald

CEO Syngenta Group

«Moderne Pestizide können zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen»

Jon Parr

Jon Parr

Präsident von Syngenta Crop Protection

«Wer hat Angst vor den bösen GVO?»

Jürg Vollmer

Jürg Vollmer

Agrarjournalist

«Was uns Pflanzenzüchtung bringt»

Achim Walter

Achim Walter

Professor für Kulturpflanzenwissenschaften, ETH Zürich

«Forschungs- und Werkplatz braucht Impuls»

Jan Lucht

Jan Lucht

Leiter Biotechnologie bei Scienceindustries

«Landwirtschaft spielt eine tragende Rolle»

Jan Grenz

Jan Grenz

Dozent für Nachhaltigkeit, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL

«Wirkungsmechanismen der Natur besser verstehen»

Urs Niggli

Urs Niggli

Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science

«Ernährungssicherheit braucht echte Schweizer Produktion»

Jil Schuller

Jil Schuller

Redaktorin «BauernZeitung»

«Laien lassen die Dosis völlig ausser Acht»

Michael Siegrist

Michael Siegrist

Professor für Konsumentenverhalten, ETH Zürich

«Ist Bio wirklich gesünder?»

Anna Bozzi

Anna Bozzi

Leiterin Bereich Ernährung und Agrar bei scienceindustries

«Gentechnik und Umweltschutz gehen Hand in Hand»

Dr. Teresa Koller

Dr. Teresa Koller

Forscht am Institut für Pflanzen- und Mikrobiologie der Universität Zürich

«Die «Greta»-Generation wird mit Paradigmen rigoros aufräumen.»

Bruno Studer

Bruno Studer

Professor für Molekulare Pflanzenzüchtung, ETH Zürich

«Wir schützen was wir nutzen»

Regina Ammann

Regina Ammann

Leiterin Sustainability & Public Affairs, Syngenta Schweiz

«Der Kampf gegen Food Waste beginnt auf dem Acker»

Joel Meier

Joel Meier

Joel Meier ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Phytomedizin.

Ähnliche Artikel

Die Biotechnologie hat erst begonnen
Neue Züchtungstechnologien

Die Biotechnologie hat erst begonnen

Als Frank Schirrmacher am 27. Juni 2000 die Seiten des Feuilletons der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» freiräumte, um über sechs Seiten das soeben erstmals entzifferte menschliche Genom Buchstabe für Buchstabe zu publizieren, rückte die Biotechnologie erstmals in den Fokus der breiten Öffentlichkeit.

Schnellere Zulassung für Pflanzenschutzmittel längst überfällig
Politik

Schnellere Zulassung für Pflanzenschutzmittel längst überfällig

Die Schweiz verbietet fleissig Wirkstoffe, die auch in der EU vom Markt genommen werden. Umgekehrt steht sie aber auf der Bremse: Moderne Mittel, die in den Nachbarländern zugelassen sind, bleiben hier blockiert. Das könnte sich nun endlich ändern. Die Wirtschaftskommission des Nationalrats hat einen entsprechenden Vorschlag angenommen.

Mit der Genschere in die Zukunft – bald auch in der Schweiz?
Medien

Mit der Genschere in die Zukunft – bald auch in der Schweiz?

Die Genom-Editierung gilt als Hoffnungsträger für eine nachhaltigere, klimaresilientere Landwirtschaft. Doch die Schweiz zögert bei der Zulassung. Eine Volksinitiative verlangt gar deren Verhinderung. Doch was kann CRISPR wirklich leisten?

Gentechnik? Ja, natürlich.
Neue Züchtungstechnologien

Gentechnik? Ja, natürlich.

Als Konsument weiss man es oft nicht: In als gentechnikfrei beworbenen Produkten steckt längst Gentechnik drin. Gentechnik-Gegnern ist das ein Dorn im Auge. Doch es ist einfacher, den «Skandal» zu verschweigen – denn etwas, was wir schon lange essen, macht uns keine Angst mehr.