
«Wirkungsmechanismen der Natur besser verstehen»
Urs Niggli ist Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science und war bis März 2020 Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL). Er ist der Ansicht, dass neue Technologien wie die Genom-Editierung das Potenzial haben, die Landwirtschaft nachhaltiger zu gestalten.
Freitag, 17. September 2021
Sowohl die intensive wie auch die biologische Landwirtschaft sind auf Pflanzenschutz angewiesen. Sollen zukünftig weniger chemische Wirkstoffe eingesetzt werden, so muss das Agrarökosystem noch besser verstanden werden. Auch für neue Ansätze, wie etwa gentechnische Verfahren, sollte man offen sein.
Landwirtinnen und Landwirte sind auf Pflanzenschutz angewiesen, um hohe und qualitativ gute Erträge zu erzielen. Dies zeigen Zahlen der Food and Agriculture Organization (FAO) eindrücklich: In den Jahren 1996 bis 1998 verursachten Schadorganismen globale Ernteverluste – je nach Kulturart – von 26 bis 40 Prozent. Für den Schutz werden häufig chemische Pflanzenschutzmittel eingesetzt, sowohl im Ackerbau wie auch in noch grösserem Masse in den Spezialkulturen Obst, Wein und Gemüse. Dort werden anzahlmässig 44 Prozent aller Wirkstoffe ausgebracht, obwohl die Anbaufläche nur 6 Prozent ausmacht.
In der intensiven Landwirtschaft dominiert der chemische Pflanzenschutz. Im biologischen Landbau ist das Vorbeugen von Schaderregern durch Kulturführung, robuste oder resistente Sorten sowie mechanische Massnahmen wie Schutznetze oder das Striegeln von Unkraut Praxis. Zusätzlich kommen auch biologische Pflanzenschutzmittel zum Einsatz, das heisst Wirkstoffe natürlichen Ursprungs, Pflanzenextrakte oder lebendige Organismen wie räuberische oder parasitierende Insekten.
Die heftigen Diskussionen rund um die Abstimmung über die beiden Pestizidinitiativen vom 13. Juni 2021 haben gezeigt, dass die Schweizer Bevölkerung dem chemischen Pflanzenschutz mehrheitlich skeptisch gegenübersteht. Der Bundesrat verfolgt schon seit längerer Zeit eine Politik der Reduktion von Pflanzenschutzmitteln. Die EU-Kommission will die Menge eingesetzter chemischer Pflanzenschutzmittel halbieren. Und auch die begleitende Wissenschaftsgruppe des Welternährungsgipfels, der im Herbst 2021 stattfindet, rät zu weniger chemischem Pflanzenschutz und Dünger und zu mehr vorbeugendem, sich an der Natur orientierendem Schutz der Ernten.
Der chemische Pflanzenschutz ist 135 Jahre alt. 1885 beschrieb der Botaniker Pierre-André Milliardet die Wirkung von Kupferkalkbrühe gegen den Falschen Mehltau der Rebe. Seither sind etwa 500 verschiedene chemische Wirkstoffe dazugekommen und wieder verschwunden. Der Einsatz dieser Pestizide hat die Arbeit in der Landwirtschaft vereinfacht, und Lebensmittel wurden dadurch günstiger.
Erstmals stellte Rachel Carson im Jahr 1962 mit ihrem Buch «Silent Spring» die Erfolgsgeschichte des chemischen Pflanzenschutzes infrage. Seither nimmt die Kritik an chemischen Pflanzenschutzmitteln ständig zu, denn diese haben nebst den erwünschten auch unerwünschte Wirkungen: Beeinträchtigt werden nicht nur einzelne Organismen im Boden und in Gewässern, sondern ganze Populationen bis hin zu Ökosystemleistungen, wie etwa die Bestäubung von Pflanzen durch Insekten. Durch die grossen Fortschritte in der Umweltanalytik der letzten Jahre kann man heute auch die Wirkung geringster Rückstände chemischer Pflanzenschutzmittel auf empfindliche Organismen im Wasser und im Boden nachweisen.
Die Geschichte des Biolandbaus, welche vor siebzig Jahren im Kampf gegen die «Chemisierung» der Landwirtschaft begann, zeigt, wie schwierig die Ablösung der Landwirtschaft vom chemischen Pflanzenschutz ist. Da haben die Befürworter der Pestizidinitiativen mit gezinkten Karten gespielt. So ist beispielsweise Kupferoxychlorid, ein synthetisch hergestellter Wirkstoff, im biologischen Landbau immer noch die erste Wahl für die Bekämpfung von Pilzen. Auch nach 35 Jahren Forschung am Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) und nach acht grossen EU-Forschungsprogrammen gibt es noch keine nichtchemischen Alternativen.
Der Ersatz chemischer Pestizide ist unter anderem deshalb so schwer, weil für die Herstellung natürlicher Pflanzenschutzmittel grosse Mengen an pflanzlichen Rohstoffen benötigt werden, die nur mit grossem Energieaufwand zu gewinnen sind. Bei bereits bestehenden biologischen Pflanzenschutzmitteln gibt es häufig ein anderes Problem: Sie bekämpfen sowohl Schädlinge wie auch Nützlinge. Und die Entwicklung neuer Wirkstoffe ist zäh.
Auch wenn die Ausgangslage schwierig ist: Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, neue Lösungen zu finden. Die Grundlagenforschung muss die Wirkungsmechanismen der Natur noch besser verstehen, um Wirkstoffe zu identifizieren, mit denen Pflanzen vor Schadorganismen geschützt werden können. Dabei können die Wirkstoffe auch direkt aus der Natur stammen. In manchen Fällen gelingt es sogar, diese natürlichen Stoffe im Labor künstlich nachzubilden – was die Produktionskosten massiv senkt.
Weiter muss die angewandte Forschung dringend die Agrarökosysteme besser verstehen. So ist beispielsweise bekannt, dass Mischkulturen von Getreiden und Hülsenfrüchten die Felder unkrautfrei hinterlassen, was wiederum den Unkrautdruck in der Fruchtfolge massiv senkt. Aber auch bei der Pflanzenzüchtung muss man trotz Vorurteilen offen sein für neue gentechnische Verfahren, um chemischen Pflanzenschutz zu ersetzen.
Urs Niggli ist Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science. Er war bis März 2020 Direktor des Forschungsinstituts für biologischen Landbau (FiBL). Dieser Beitrag erschien als Erstveröffentlichung in der NZZ vom 15. September 2021. Foto: Mafalda Rakoš.
Ähnliche Artikel

Tradition und Innovation gehen beim Essen Hand in Hand
Die Studie «Decoding Food Culture» des Gottlieb Duttweiler Instituts zeigt, wie tief Esskultur unser Leben prägt. Deshalb gleicht es einem Balanceakt zwischen Tradition und Innovation, um Veränderungen in der Ernährung zu bewirken.

Erst die Moral, dann das Essen
Gentechnologie in der Landwirtschaft – wo bleibt Röstis Technologieoffenheit?

ESG-Berichterstattung: Ausser Spesen wenig gewesen
Die ESG-Kriterien (Environmental, Social, Governance) sollen Unternehmen zu nachhaltigem Handeln und Transparenz führen. Die Unternehmen müssen erhebliche Ressourcen in die Erfüllung von Vorschriften und die Erstellung von Berichten investieren. Die Aufgabenlast wird dabei laufend grösser. Für viele Unternehmen sind diese Anforderungen eine enorme bürokratische Last – mit wenig oder keinem Nutzen für die effektive Nachhaltigkeit.

Die unterschätzte Gefahr pflanzlicher Toxine
Pflanzen produzieren eine Vielzahl chemischer Stoffe, um sich beispielsweise gegen Fressfeinde und Krankheiten zu schützen. Diese Substanzen können in hohen Dosen toxisch wirken. Eine aktuelle Untersuchung von Agroscope beleuchtet die Gefahr natürlicher Stoffe in Schweizer Gewässern.