
«Fader Einheitsbrei für alle – Zucker: geliebt, bekämpft, gefördert»
Mit der einen Hand fördert der Staat den Zuckerverzicht, mit der anderen subventioniert er die Zuckerproduktion. Dieser ordnungspolitische Sündenfall sollte zum Nachdenken über staatlichen Interventionismus in Ernährungsfragen einladen, schreibt Claudia Wirz in der «NZZ».
Mittwoch, 29. März 2023
Wenn man gleichzeitig an Mailand und ans Essen denkt, kommen einem viele schöne Dinge in den Sinn: das Ossobuco zum Beispiel oder der Risotto alla Milanese, die Minestrone, die legendäre Mailänder Salami, die Spinat-Ricotta-Torte, die ungezählten Varianten von Polenta.
Nicht zu unterschätzen ist die enorme Bedeutung der exquisiten regionalen Käsesorten in der Mailänder Küche. Ihrer Liebe zum Milchprodukt verdankt die lombardische Metropole den Spottnamen Paneròpoli, der auf den lokalsprachlichen Begriff für Rahm, «panera», zurückgehen soll. Und was wäre Mailand ohne Panettone zu Weihnachten oder ohne Colomba zu Ostern? Die dem «dolce» Zugeneigten kommen in Mailand wahrhaft auf ihre Kosten!
Gesundheitsbelehrung durch die Politik
Doch die schweizerische Politik schafft es, diese süssen Assoziationen zu versalzen. Bei der sogenannten «Erklärung von Mailand» – im Jahr 2015 anlässlich der Weltausstellung unter der Ägide von Bundesrat Alain Berset ins Leben gerufen – geht es zwar auch ums Essen (und Trinken) und insbesondere um Süsses. Doch wer meint, dieses Schriftstück sei eine Liebeserklärung an den Gusto, irrt. Hier geht es um Ab- und Umkehr, Verzicht, Regulierung und lebenslange Gesundheitsbelehrung durch Akteure der Politik.
Weniger Zucker, weniger Salz, weniger Fett lautet das übergeordnete Motto der Schweizer «Ernährungsstrategie», zu der auch die genannte Erklärung zählt, bei der es um Zuckerreduktion geht. Wie sich das für einen zentralistischen Plan gehört, gelten die Vorgaben pauschal. Ganz gleich ob dick oder dünn, ob Sportler oder Stubenhocker, das Volk soll gefälligst weniger Zucker konsumieren. Dazu soll die Industrie freiwillig den Zuckergehalt in Müesli, Joghurt oder Süssgetränken senken und dazu die «Erklärung von Mailand» unterschreiben.
Regulatorische Drohkulisse
Dieser Tage meldete das zuständige Amt, dass zu den Unternehmen, die die Erklärung zur «freiwilligen» Zuckerreduktion bereits unterzeichnet hätten, zehn weitere dazugekommen seien. Wie freiwillig diese Bekenntnisse angesichts regulatorischer Drohkulissen sind, sei dahingestellt. Aber die politischen Rezepte zur Zuckerreduktion sind so oder so untauglich. Erstens ist die Wahl der betroffenen Produkte willkürlich. Zweitens ist die Massnahme genauso wie eine Zuckersteuer ineffizient, weil sie auch jene trifft, die nicht zu viel Zucker konsumieren. Drittens ist das Ganze reine Symbolpolitik; jeder kann sein Müesli nach Belieben nachsüssen. Und viertens ist die eigene Ernährung Privatsache. Der Staat ist weder Erziehungsberechtigter, noch kann er die Vernunft des Einzelnen ersetzen.
Besonders stossend ist im konkreten Fall, dass der gleiche Staat, der dem Volk den Zuckerverzicht predigt, die Zuckerproduktion im grossen Stil subventioniert. Angesichts solcher Widersprüchlichkeiten kann der steuerzahlende Betrachter, der all das finanzieren muss, eigentlich nur zu einem Schluss kommen: Nicht nur beim Zucker, auch beim staatlichen Interventionismus wäre weniger mehr. Wer ob solcherlei ordnungspolitischer Kapriolen eine Auszeit vom politischen Alltag braucht, dem sei hiermit eine alternative «Erklärung von Mailand» ans Herz gelegt: Mailand ist immer eine Reise wert, nicht nur, aber auch wegen des herzhaften Essens.
Claudia Wirz ist freie Journalistin und Autorin. Dieser Gastbeitrag ist als Erstveröffentlichung in der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 28. Februar 2023 erschienen.
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