Meinungen
Philipp Schwander

«Carte Blanche: Überzogene Anti-Alkohol-Strategie»

Kolumne von Philipp Schwander in der BILANZ: Seit einiger Zeit betreiben die WHO und weitere Organisationen eine massive Kampagne gegen den Alkohol. Das Ziel ist: Vision Zero. Dabei wird bei den Statistiken gerne mal getrickst. Zeit für eine Einordnung.

Dienstag, 29. April 2025

Hand aufs Herz: Wären Sie nicht irritiert, wenn am Skilift oder auf Bergwanderwegen grosse Warnschilder mit dramatischen Bildern von Schwerverletzten auf die Gefährlichkeit sportlicher Betätigung aufmerksam machen würden? Etwa im Stil von: «Sport kann zu schweren Verletzungen führen oder Sie umbringen.» Genauso haarsträubend wie eine Warntafel am Skilift ist das, was sich jetzt gewisse Organisationen, allen voran die Weltgesundheitsorganisation WHO, vorgenommen haben, um den moderaten Alkoholkonsum zu bekämpfen. Sie glauben mir nicht? Bitte lassen Sie mich dies näher erläutern.

Die Wahrscheinlichkeit, dass eine erwerbstätige Person in der Schweiz pro Jahr einen Unfall in der Freizeit erleidet, liegt zwischen 11 und 13 Prozent, davon entfallen 3 bis 4,5 Prozent auf schwere Unfälle, welche die Gemeinschaft finanziell und emotional stark belasten. Wirft man nun einen Blick auf die aktuellen Medienschlagzeilen zum Thema Alkohol, kommt blanke Panik auf. Besonders oft wird die Lancet-Studie aus dem Jahr 2020 bemüht, in der es heisst, dass bereits ein Alkoholdrink pro Tag (zum Beispiel ein Glas Wein) gefährlich sein könne und das relative Risiko von alkoholbedingten Krankheiten um rund 0,5 Prozent erhöhe. Nicht auszudenken, was passiert, wenn ich mir als Weinfreund vier Gläser pro Tag genehmige.

Relatives und absolutes Risiko sind jedoch zwei völlig verschiedene Grössen, und wer die Studie aufmerksam studiert, wird Folgendes entdecken: Von 100 000 Abstinenten hatten nach einem Jahr 914 Personen ein gesundheitliches Problem. Bei jenen 100 000, die täglich ein Glas Wein trinken, waren es vier Personen mehr. Eine wahrlich vernachlässigbare Zahl, die mutmasslich noch im statistischen Streubereich liegt. Das tatsächliche Risiko erhöht sich bei dieser gern zitierten Studie also um 0,004 Prozent. Genau. Lassen Sie sich das auf der Zunge zergehen: 0,004 Prozent oder 1:25 000. (Die Wahrscheinlichkeit übrigens, einmal im Leben vom Blitz getroffen zu werden liegt zwischen 1:15 000 und 1:30 000.) Oder anders ausgedrückt: Es ist rund 3000-mal riskanter, bei einer Freizeitaktivität ein Problem zu bekommen, als täglich ein Glas Wein zu geniessen. Bei zwei Gläsern Bier oder Wein pro Tag steigt die theoretische Wahrscheinlichkeit übrigens auf wahnsinnige 0,063 Prozent.

Ein Trick, mit dem die vorteilhaften Auswirkungen des moderaten Alkoholkonsums auf die Herzkranzgefässe beseitigt werden können, ist der Einbezug von Drittwelt- oder Schwellenländern in die Studien. So wird man in einem Entwicklungsland mit einem hohen Anteil ­ junger Menschen kaum positive kardiovaskuläre Effekte durch Alkoholkonsum feststellen können – die Leute sind schlicht zu jung, um entsprechende Krankheiten zu entwickeln. Dafür sterben sie oft sehr früh, weil die Hygiene und die Qualität der konsumierten alkoholischen Getränke schlecht sind oder weil es zu schweren Unfällen und Gewalttaten kommt. Die Lancet-Studie sowie zahlreiche andere dieser neuen Studien behandeln jetzt sämtliche Länder als kollektive Einheit, ungeachtet ihrer enormen demografischen, kulturellen und sozioökonomischen Unterschiede.

In diesem Potpourri von Störfaktoren und ungleichen Studiendesigns entsteht dann die abenteuerliche Schlussfolgerung, dass bereits ein einziger Drink für alle Menschen bedenklich sei. Wissenschaftlich ist eine derartige Vermischung verschiedenster Populationen und Lebensumstände nicht haltbar. Fazit: Alkohol kann bei Missbrauch schädlich oder sogar tödlich sein – das gilt aber auch für Sport. Ebenso können Menschen mit einem Küchenmesser oder einem Auto getötet werden. Diese Gegenstände deswegen verbieten zu wollen, ist genauso absurd wie die völlig überzogene derzeitige Anti-Alkohol-Strategie.

Philipp Schwander ist Master of Wine, Weinexperte und Unternehmer. Er ist der erste Schweizer, der die weltweit schwierigste Weinprüfung, den «Master of Wine», bestanden hat. Seit über 35 Jahren ist er im Weinhandel tätig. Er gründete 2003 seine eigene Firma «Selection Schwander». Er steht für charaktervolle, hochwertige Weine zu fairen Preisen und versteht sich als Anwalt für Weinliebhaber mit kleinem Budget. Schwander ist Ehrenmitglied der Weinakademie Österreich und schreibt regelmässig für verschiedene schweizerische Zeitungen und Zeitschriften.

Dieser Beitrag ist als Erstveröffentlichung in der «BILANZ» erschienen.

Foto: selection-schwander.ch

«Die Genschere revolutioniert auch den biologischen Pflanzenschutz»

Urs Niggli

Urs Niggli

Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science

«Neue genomische Verfahren in der Pflanzenzüchtung: Nachhaltigkeit braucht Innovation»

Philipp Aerni

Philipp Aerni

Wirtschaftsprofessor & Experte Corporate Responsibility and Sustainability

«Carte Blanche: Überzogene Anti-Alkohol-Strategie»

Philipp Schwander

Philipp Schwander

Master of Wine, Weinexperte und Unternehmer

«Landwirtschaft braucht eine gemeinsame Vision»

Dr. Christian Stockmar

Dr. Christian Stockmar

Obmann der IndustrieGruppe Pflanzenschutz, Österreich

«Reine Selbstüberschätzung»

Patrick Dümmler

Patrick Dümmler

Ressortleiter Nachhaltigkeit und Wirtschaftspolitik des Schweizerischen Gewerbeverbandes

«Wir sind Europas Schlusslicht beim Pflanzenschutz»

David Brugger

David Brugger

Leiter Pflanzenbau, Schweizer Bauernverband

«Die orangen Elefanten im Raum»

Jürg Vollmer

Jürg Vollmer

Agrarjournalist

«Neuorientierung bei der Gentechnik»

Raphael Bühlmann

Raphael Bühlmann

Land- und Betriebswirt FH.

«Politik scheint resistent gegen Fakten»

Beat Keller

Beat Keller

Professor für Molekulare Pflanzenbiologie an der Universität Zürich

«Präzise Verfahren brauchen liberale Regeln»

Jürg Niklaus

Jürg Niklaus

Jürg Niklaus ist promovierter Jurist und setzt sich für Pflanzenzüchtung ein.

«Mehr Pestizide, mehr Gentechnik: Wie wir den Hunger überwinden»

Markus Somm

Markus Somm

Journalist, Publizist, Verleger und Historiker

«Die Angst vor Gentech-Pflanzen ist unnötig»

Anke Fossgreen

Anke Fossgreen

Leiterin Wissenteam Tamedia

«Politik darf Nahrungsmittelpreise nicht weiter in die Höhe treiben»

Babette Sigg Frank

Babette Sigg Frank

Präsidentin Konsumentenforum

«Chance der grünen Biotechnologie nutzen»

Roman Mazzotta

Roman Mazzotta

Länderpräsident Syngenta Schweiz

«Nachhaltigkeit bedeutet mehr»

Hendrik Varnholt

Hendrik Varnholt

Ressortleiter Industrie bei der Lebensmittel Zeitung

«Ein Drittel Bio löst das Problem nicht»

Olaf Deininger

Olaf Deininger

Entwicklungs-Chefredakteur Agrar-Medien

«Allein mit ökologischen Methoden werden wir es nicht schaffen»

Saori Dubourg

Saori Dubourg

Mitglied des Vorstands der BASF SE

«Die meisten Ängste gegenüber Pestiziden sind unbegründet»

Michelle Miller

Michelle Miller

Kolumnistin bei Genetic Literacy Project und AGDaily

Neue Technologien braucht die Landwirtschaft

Erik Fyrwald

Erik Fyrwald

CEO Syngenta Group

«Moderne Pestizide können zur Bekämpfung des Klimawandels beitragen»

Jon Parr

Jon Parr

Präsident von Syngenta Crop Protection

«Wer hat Angst vor den bösen GVO?»

Jürg Vollmer

Jürg Vollmer

Agrarjournalist

«Was uns Pflanzenzüchtung bringt»

Achim Walter

Achim Walter

Professor für Kulturpflanzenwissenschaften, ETH Zürich

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Jan Lucht

Jan Lucht

Leiter Biotechnologie bei Scienceindustries

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Jan Grenz

Jan Grenz

Dozent für Nachhaltigkeit, Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL

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Urs Niggli

Urs Niggli

Agrarwissenschafter und Präsident von Agroecology Science

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Jil Schuller

Redaktorin «BauernZeitung»

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Michael Siegrist

Professor für Konsumentenverhalten, ETH Zürich

«Ist Bio wirklich gesünder?»

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Anna Bozzi

Leiterin Bereich Ernährung und Agrar bei scienceindustries

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Dr. Teresa Koller

Dr. Teresa Koller

Forscht am Institut für Pflanzen- und Mikrobiologie der Universität Zürich

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Bruno Studer

Professor für Molekulare Pflanzenzüchtung, ETH Zürich

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Joel Meier ist Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für Phytomedizin.

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